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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

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Die Geschichte

um acht Uhr.

Der Mensch hat meinen Brief: - - Was
für eine ausserordentliche Wachsamkeit! Jch
wünsche, daß er eine gute Absicht bey der Mühe
haben möge, die er sich giebt. Jndessen würde
es mich verdriessen, wenn er nicht so wachsam
wäre: und doch wünschte ich, daß er hundert
Meilen von mir entfernt gewesen wäre. Wie
vielen Vortheil habe ich ihm über mich gegeben!

Nun ich den Brief nicht mehr in meiner Ge-
walt habe, bin ich noch unruhiger, und es ge-
reuet mich mehr, als vorhin. Jch zweiffelte noch
vorhin, ob ich den Brief an ihn gelangen lassen
solte oder nicht: und nun dünckt mich, ich hät-
te es nicht thun sollen. Und doch weiß ich kei-
nen andern Weg als diesen, Herrn Solmes zu
entgehen. Für was für ein liederliches Mäd-
chen werde ich aber angesehen werden, wenn
ich das thue, was die natürliche Folge meines
Briefes ist!

Liebste, liebste Freundin, sagen Sie mir: ha-
be ich recht oder unrecht gethan? Geben Sie
mir aber nicht Unrecht, wenn Sie gleich so den-
cken: denn wenn mich gleich die gantze Welt
verdammet, und Sie thun es nur nicht, so wird
es mir schon ein Trost seyn. Dis ist das erste
mahl, daß ich Sie bitte mir zu schmeicheln:
und das ist schon ein Zeichen, daß ich Unrecht
gethan habe, weil ich die Wahrheit nicht hören
will. Sagen Sie mir, und sagen Sie es mir
dennoch nicht, ob ich Unrecht gethan habe.

Meine
Die Geſchichte

um acht Uhr.

Der Menſch hat meinen Brief: ‒ ‒ Was
fuͤr eine auſſerordentliche Wachſamkeit! Jch
wuͤnſche, daß er eine gute Abſicht bey der Muͤhe
haben moͤge, die er ſich giebt. Jndeſſen wuͤrde
es mich verdrieſſen, wenn er nicht ſo wachſam
waͤre: und doch wuͤnſchte ich, daß er hundert
Meilen von mir entfernt geweſen waͤre. Wie
vielen Vortheil habe ich ihm uͤber mich gegeben!

Nun ich den Brief nicht mehr in meiner Ge-
walt habe, bin ich noch unruhiger, und es ge-
reuet mich mehr, als vorhin. Jch zweiffelte noch
vorhin, ob ich den Brief an ihn gelangen laſſen
ſolte oder nicht: und nun duͤnckt mich, ich haͤt-
te es nicht thun ſollen. Und doch weiß ich kei-
nen andern Weg als dieſen, Herrn Solmes zu
entgehen. Fuͤr was fuͤr ein liederliches Maͤd-
chen werde ich aber angeſehen werden, wenn
ich das thue, was die natuͤrliche Folge meines
Briefes iſt!

Liebſte, liebſte Freundin, ſagen Sie mir: ha-
be ich recht oder unrecht gethan? Geben Sie
mir aber nicht Unrecht, wenn Sie gleich ſo den-
cken: denn wenn mich gleich die gantze Welt
verdammet, und Sie thun es nur nicht, ſo wird
es mir ſchon ein Troſt ſeyn. Dis iſt das erſte
mahl, daß ich Sie bitte mir zu ſchmeicheln:
und das iſt ſchon ein Zeichen, daß ich Unrecht
gethan habe, weil ich die Wahrheit nicht hoͤren
will. Sagen Sie mir, und ſagen Sie es mir
dennoch nicht, ob ich Unrecht gethan habe.

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[434/0440] Die Geſchichte um acht Uhr. Der Menſch hat meinen Brief: ‒ ‒ Was fuͤr eine auſſerordentliche Wachſamkeit! Jch wuͤnſche, daß er eine gute Abſicht bey der Muͤhe haben moͤge, die er ſich giebt. Jndeſſen wuͤrde es mich verdrieſſen, wenn er nicht ſo wachſam waͤre: und doch wuͤnſchte ich, daß er hundert Meilen von mir entfernt geweſen waͤre. Wie vielen Vortheil habe ich ihm uͤber mich gegeben! Nun ich den Brief nicht mehr in meiner Ge- walt habe, bin ich noch unruhiger, und es ge- reuet mich mehr, als vorhin. Jch zweiffelte noch vorhin, ob ich den Brief an ihn gelangen laſſen ſolte oder nicht: und nun duͤnckt mich, ich haͤt- te es nicht thun ſollen. Und doch weiß ich kei- nen andern Weg als dieſen, Herrn Solmes zu entgehen. Fuͤr was fuͤr ein liederliches Maͤd- chen werde ich aber angeſehen werden, wenn ich das thue, was die natuͤrliche Folge meines Briefes iſt! Liebſte, liebſte Freundin, ſagen Sie mir: ha- be ich recht oder unrecht gethan? Geben Sie mir aber nicht Unrecht, wenn Sie gleich ſo den- cken: denn wenn mich gleich die gantze Welt verdammet, und Sie thun es nur nicht, ſo wird es mir ſchon ein Troſt ſeyn. Dis iſt das erſte mahl, daß ich Sie bitte mir zu ſchmeicheln: und das iſt ſchon ein Zeichen, daß ich Unrecht gethan habe, weil ich die Wahrheit nicht hoͤren will. Sagen Sie mir, und ſagen Sie es mir dennoch nicht, ob ich Unrecht gethan habe. Meine

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/440>, abgerufen am 22.11.2024.