Jch weiß wohl, daß Sie mit mir einerley Begrif von der Freundschaft haben: denn Sie haben mich bey einer gewissen Gelegenheit geleh- ret, diesen Unterscheid zu machen, und sie müs- sen sich noch nothwendig erinnern, daß Sie mich damahls von vieler Ungelegenheit befreyeten, die ich mir sonst gemacht haben würde. Allein Sie suchen immer andere Leute in solchen Fällen zu entschuldigen, in denen Sie sich doch selbsten verdammen würden.
Gewiß wenn eine andere als Sie die Lieblo- sigkeit eines Freundes in einem solchen Falle ent- schuldigte, da dem einen Theil ein so grosser Dienst durch den vergönneten Schutz mit so we- niger Ungelegenheit des andern Theils erzeigt werden könnte: so würde ich nach meiner Art (denn sie sagen doch selbst, daß ich stets die Ursachen aufsuche) den Argwohn schöpfen, daß sich in dem Hertzen der allzugütigen Entschuldi- gerin eine geheime Neigung finde, die sie nicht gern gestehen wolle; die aber verursache, daß ihr das weniger wichtig vorkomme, was doch sehr wichtig ist.
Sie werden mich wohl verstehen, mein Kind: wenn Sie mich aber nicht verstehen, so ist es für mich desto besser. Denn ich fürchte daß mir mein aufgestiegener Gedancke, oder mein duncke- ler und zweydeutiger Winck, abermahls den Ver- weiß von Jhnen zuziehen wird, den Sie mir
bey
Die Geſchichte
Jch weiß wohl, daß Sie mit mir einerley Begrif von der Freundſchaft haben: denn Sie haben mich bey einer gewiſſen Gelegenheit geleh- ret, dieſen Unterſcheid zu machen, und ſie muͤſ- ſen ſich noch nothwendig erinnern, daß Sie mich damahls von vieler Ungelegenheit befreyeten, die ich mir ſonſt gemacht haben wuͤrde. Allein Sie ſuchen immer andere Leute in ſolchen Faͤllen zu entſchuldigen, in denen Sie ſich doch ſelbſten verdammen wuͤrden.
Gewiß wenn eine andere als Sie die Lieblo- ſigkeit eines Freundes in einem ſolchen Falle ent- ſchuldigte, da dem einen Theil ein ſo groſſer Dienſt durch den vergoͤnneten Schutz mit ſo we- niger Ungelegenheit des andern Theils erzeigt werden koͤnnte: ſo wuͤrde ich nach meiner Art (denn ſie ſagen doch ſelbſt, daß ich ſtets die Urſachen aufſuche) den Argwohn ſchoͤpfen, daß ſich in dem Hertzen der allzuguͤtigen Entſchuldi- gerin eine geheime Neigung finde, die ſie nicht gern geſtehen wolle; die aber verurſache, daß ihr das weniger wichtig vorkomme, was doch ſehr wichtig iſt.
Sie werden mich wohl verſtehen, mein Kind: wenn Sie mich aber nicht verſtehen, ſo iſt es fuͤr mich deſto beſſer. Denn ich fuͤrchte daß mir mein aufgeſtiegener Gedancke, oder mein duncke- ler und zweydeutiger Winck, abermahls den Ver- weiß von Jhnen zuziehen wird, den Sie mir
bey
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Die Geſchichte
Jch weiß wohl, daß Sie mit mir einerley
Begrif von der Freundſchaft haben: denn Sie
haben mich bey einer gewiſſen Gelegenheit geleh-
ret, dieſen Unterſcheid zu machen, und ſie muͤſ-
ſen ſich noch nothwendig erinnern, daß Sie mich
damahls von vieler Ungelegenheit befreyeten, die
ich mir ſonſt gemacht haben wuͤrde. Allein Sie
ſuchen immer andere Leute in ſolchen Faͤllen
zu entſchuldigen, in denen Sie ſich doch ſelbſten
verdammen wuͤrden.
Gewiß wenn eine andere als Sie die Lieblo-
ſigkeit eines Freundes in einem ſolchen Falle ent-
ſchuldigte, da dem einen Theil ein ſo groſſer
Dienſt durch den vergoͤnneten Schutz mit ſo we-
niger Ungelegenheit des andern Theils erzeigt
werden koͤnnte: ſo wuͤrde ich nach meiner Art
(denn ſie ſagen doch ſelbſt, daß ich ſtets die
Urſachen aufſuche) den Argwohn ſchoͤpfen, daß
ſich in dem Hertzen der allzuguͤtigen Entſchuldi-
gerin eine geheime Neigung finde, die ſie nicht
gern geſtehen wolle; die aber verurſache, daß ihr
das weniger wichtig vorkomme, was doch ſehr
wichtig iſt.
Sie werden mich wohl verſtehen, mein Kind:
wenn Sie mich aber nicht verſtehen, ſo iſt es
fuͤr mich deſto beſſer. Denn ich fuͤrchte daß mir
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/480>, abgerufen am 26.11.2024.
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