Jch bin nicht ihr Ankläger. Jch überlege die Sache nur von beyden Seiten, und in meinem Hertzen spreche ich mein himmlisches Kind los, und verehre es. Allein ich will genau untersuchen, ob ich sie nach Verdienst oder aus der Schwachheit, die man Liebe nennet, losspreche.
Wir wollen einmahl setzen, daß sie einen an- dern Bewegungs-Grund gehabt, dieses zu thun: so ist es die Liebe gewesen. Die gantze Welt würde sie deswegen entschuldigen. Allein ich will auch der gantzen Welt sagen, daß sie dieses thut, nicht weil es Recht ist, sondern weil sie sich gern verleiten läßt.
So sey denn die Liebe ihr Bewegungs-Grund! Die Liebe zu wem?
Zu einem Lovelace!
Jst aber nur Ein Lovelace in der Welt? können nicht mehrere Lovelacen seyn, die sich in ihre Gestalt und in ihre unvergleichlichen Eigen- schaften verlieben? Jhre Tugend zog mich zuerst; ihre Schönheit und Verstand machten meine Ket- ten stärcker: alle diese Eigenschaften zusammen ge- nommen, machen, daß ich sie jetzt für würdig an- sehe, mich im Ernst um sie zu bewerben.
Hat sie aber so viel Aufrichtigkeit, hat sie ein so offenes Hertz, daß sie ihre Liebe gestehet?
Nein! das hat sie nicht.
Wenn es denn im Grunde doch Liebe ist, so frage ich, ist nicht noch ein Laster unter dem Schatten der Liebe versteckt? Hat sie etwas gezwungenes? Oder ist es Hochmuth?
Was
Jch bin nicht ihr Anklaͤger. Jch uͤberlege die Sache nur von beyden Seiten, und in meinem Hertzen ſpreche ich mein himmliſches Kind los, und verehre es. Allein ich will genau unterſuchen, ob ich ſie nach Verdienſt oder aus der Schwachheit, die man Liebe nennet, losſpreche.
Wir wollen einmahl ſetzen, daß ſie einen an- dern Bewegungs-Grund gehabt, dieſes zu thun: ſo iſt es die Liebe geweſen. Die gantze Welt wuͤrde ſie deswegen entſchuldigen. Allein ich will auch der gantzen Welt ſagen, daß ſie dieſes thut, nicht weil es Recht iſt, ſondern weil ſie ſich gern verleiten laͤßt.
So ſey denn die Liebe ihr Bewegungs-Grund! Die Liebe zu wem?
Zu einem Lovelace!
Jſt aber nur Ein Lovelace in der Welt? koͤnnen nicht mehrere Lovelacen ſeyn, die ſich in ihre Geſtalt und in ihre unvergleichlichen Eigen- ſchaften verlieben? Jhre Tugend zog mich zuerſt; ihre Schoͤnheit und Verſtand machten meine Ket- ten ſtaͤrcker: alle dieſe Eigenſchaften zuſammen ge- nommen, machen, daß ich ſie jetzt fuͤr wuͤrdig an- ſehe, mich im Ernſt um ſie zu bewerben.
Hat ſie aber ſo viel Aufrichtigkeit, hat ſie ein ſo offenes Hertz, daß ſie ihre Liebe geſtehet?
Nein! das hat ſie nicht.
Wenn es denn im Grunde doch Liebe iſt, ſo frage ich, iſt nicht noch ein Laſter unter dem Schatten der Liebe verſteckt? Hat ſie etwas gezwungenes? Oder iſt es Hochmuth?
Was
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0185"n="171"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Jch bin nicht ihr Anklaͤger. Jch uͤberlege die<lb/>
Sache nur von beyden Seiten, und in meinem<lb/>
Hertzen ſpreche ich mein himmliſches Kind los, und<lb/>
verehre es. Allein ich will genau unterſuchen, ob<lb/>
ich ſie nach Verdienſt oder aus der Schwachheit,<lb/>
die man Liebe nennet, losſpreche.</p><lb/><p>Wir wollen einmahl ſetzen, daß ſie einen an-<lb/>
dern Bewegungs-Grund gehabt, dieſes zu thun:<lb/>ſo iſt es die <hirendition="#fr">Liebe</hi> geweſen. Die gantze Welt<lb/>
wuͤrde ſie deswegen entſchuldigen. Allein ich will<lb/>
auch der gantzen Welt ſagen, daß ſie dieſes thut,<lb/>
nicht weil es Recht iſt, ſondern weil ſie ſich gern<lb/>
verleiten laͤßt.</p><lb/><p>So ſey denn die Liebe ihr Bewegungs-Grund!<lb/>
Die Liebe zu wem?</p><lb/><p>Zu einem <hirendition="#fr">Lovelace!</hi></p><lb/><p>Jſt aber nur <hirendition="#fr">Ein Lovelace</hi> in der Welt?<lb/>
koͤnnen nicht mehrere <hirendition="#fr">Lovelacen</hi>ſeyn, die ſich in<lb/>
ihre Geſtalt und in ihre unvergleichlichen Eigen-<lb/>ſchaften verlieben? Jhre Tugend zog mich zuerſt;<lb/>
ihre Schoͤnheit und Verſtand machten meine Ket-<lb/>
ten ſtaͤrcker: alle dieſe Eigenſchaften zuſammen ge-<lb/>
nommen, machen, daß ich ſie jetzt fuͤr wuͤrdig an-<lb/>ſehe, mich im Ernſt um ſie zu bewerben.</p><lb/><p>Hat ſie aber ſo viel Aufrichtigkeit, hat ſie ein<lb/>ſo offenes Hertz, daß ſie ihre Liebe geſtehet?</p><lb/><p>Nein! das hat ſie nicht.</p><lb/><p>Wenn es denn im Grunde doch Liebe iſt, ſo frage<lb/>
ich, iſt nicht noch ein Laſter unter dem Schatten<lb/>
der Liebe verſteckt? Hat ſie etwas gezwungenes?<lb/>
Oder iſt es Hochmuth?</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Was</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[171/0185]
Jch bin nicht ihr Anklaͤger. Jch uͤberlege die
Sache nur von beyden Seiten, und in meinem
Hertzen ſpreche ich mein himmliſches Kind los, und
verehre es. Allein ich will genau unterſuchen, ob
ich ſie nach Verdienſt oder aus der Schwachheit,
die man Liebe nennet, losſpreche.
Wir wollen einmahl ſetzen, daß ſie einen an-
dern Bewegungs-Grund gehabt, dieſes zu thun:
ſo iſt es die Liebe geweſen. Die gantze Welt
wuͤrde ſie deswegen entſchuldigen. Allein ich will
auch der gantzen Welt ſagen, daß ſie dieſes thut,
nicht weil es Recht iſt, ſondern weil ſie ſich gern
verleiten laͤßt.
So ſey denn die Liebe ihr Bewegungs-Grund!
Die Liebe zu wem?
Zu einem Lovelace!
Jſt aber nur Ein Lovelace in der Welt?
koͤnnen nicht mehrere Lovelacen ſeyn, die ſich in
ihre Geſtalt und in ihre unvergleichlichen Eigen-
ſchaften verlieben? Jhre Tugend zog mich zuerſt;
ihre Schoͤnheit und Verſtand machten meine Ket-
ten ſtaͤrcker: alle dieſe Eigenſchaften zuſammen ge-
nommen, machen, daß ich ſie jetzt fuͤr wuͤrdig an-
ſehe, mich im Ernſt um ſie zu bewerben.
Hat ſie aber ſo viel Aufrichtigkeit, hat ſie ein
ſo offenes Hertz, daß ſie ihre Liebe geſtehet?
Nein! das hat ſie nicht.
Wenn es denn im Grunde doch Liebe iſt, ſo frage
ich, iſt nicht noch ein Laſter unter dem Schatten
der Liebe verſteckt? Hat ſie etwas gezwungenes?
Oder iſt es Hochmuth?
Was
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/185>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.