Was ist endlich der Schluß? Jst die göttliche Clarissa Harlowe im Stande, einen zu lieben, den sie nicht lieben sollte? kann sie etwas gezwungenes und unnatürliches an sich haben? Jst ihre Tugend auf Hochmuth gegründet? Wenn ein Ja hierauf zur Antwort fällt; muß sie denn nicht eine Frau- ens-Person seyn?
Kann sie einen solchen Liebhaber im Zaum hal- ten? Muß der vor ihr zittern, der sonst lauter Sieges-Lieder über die schönen Kinder sang? Kann sie sich so verstellen, daß er bisweilen zweifelhaftig ist, ob sie ihn, ob sie irgend eine Manns-Person in der Welt liebet? und hat sie dennoch nicht die völlige Herrschaft über sich in solchen Stücken, auf denen ihrer Meinung nach ihre Ehre beruhet? (Jch verdamme sie noch nicht: ich untersuche die Sache nur.) Läßt sie sich so weit treiben, daß sie verspricht, ihres Vaters Haus zu verlassen und mit ihm davon zu gehen, da sie ihn doch kennet? und zwar dieses unter der Bedingung, daß er sie nicht heyrathen soll, bis eine sehr zufällige, eine unwahrscheinliche Veränderung erfolget seyn wird? Man gebe zu, daß ihre Umstände ein jedes anderes Frauenzimmer entschuldigen könnten. Solte aber eine Clarissa durch Umstände verführet werden können, wenn sie selbst sich darüber anklaget, daß diese Um- stände einen Einfluß in ihr Gemüth gehabt haben?
Was ist dazu zu sagen, daß das liebe Kind sich entschließt, sein Versprechen zurück zu nehmen; und sich dennoch zu der bestimmten Stunde einstel- let mit seinem Liebhaber zu sprechen? mit einem
drei-
Was iſt endlich der Schluß? Jſt die goͤttliche Clariſſa Harlowe im Stande, einen zu lieben, den ſie nicht lieben ſollte? kann ſie etwas gezwungenes und unnatuͤrliches an ſich haben? Jſt ihre Tugend auf Hochmuth gegruͤndet? Wenn ein Ja hierauf zur Antwort faͤllt; muß ſie denn nicht eine Frau- ens-Perſon ſeyn?
Kann ſie einen ſolchen Liebhaber im Zaum hal- ten? Muß der vor ihr zittern, der ſonſt lauter Sieges-Lieder uͤber die ſchoͤnen Kinder ſang? Kann ſie ſich ſo verſtellen, daß er bisweilen zweifelhaftig iſt, ob ſie ihn, ob ſie irgend eine Manns-Perſon in der Welt liebet? und hat ſie dennoch nicht die voͤllige Herrſchaft uͤber ſich in ſolchen Stuͤcken, auf denen ihrer Meinung nach ihre Ehre beruhet? (Jch verdamme ſie noch nicht: ich unterſuche die Sache nur.) Laͤßt ſie ſich ſo weit treiben, daß ſie verſpricht, ihres Vaters Haus zu verlaſſen und mit ihm davon zu gehen, da ſie ihn doch kennet? und zwar dieſes unter der Bedingung, daß er ſie nicht heyrathen ſoll, bis eine ſehr zufaͤllige, eine unwahrſcheinliche Veraͤnderung erfolget ſeyn wird? Man gebe zu, daß ihre Umſtaͤnde ein jedes anderes Frauenzimmer entſchuldigen koͤñten. Solte aber eine Clariſſa durch Umſtaͤnde verfuͤhret werden koͤnnen, wenn ſie ſelbſt ſich daruͤber anklaget, daß dieſe Um- ſtaͤnde einen Einfluß in ihr Gemuͤth gehabt haben?
Was iſt dazu zu ſagen, daß das liebe Kind ſich entſchließt, ſein Verſprechen zuruͤck zu nehmen; und ſich dennoch zu der beſtimmten Stunde einſtel- let mit ſeinem Liebhaber zu ſprechen? mit einem
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Was iſt endlich der Schluß? Jſt die goͤttliche
Clariſſa Harlowe im Stande, einen zu lieben, den
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und unnatuͤrliches an ſich haben? Jſt ihre Tugend
auf Hochmuth gegruͤndet? Wenn ein Ja hierauf
zur Antwort faͤllt; muß ſie denn nicht eine Frau-
ens-Perſon ſeyn?
Kann ſie einen ſolchen Liebhaber im Zaum hal-
ten? Muß der vor ihr zittern, der ſonſt lauter
Sieges-Lieder uͤber die ſchoͤnen Kinder ſang? Kann
ſie ſich ſo verſtellen, daß er bisweilen zweifelhaftig
iſt, ob ſie ihn, ob ſie irgend eine Manns-Perſon
in der Welt liebet? und hat ſie dennoch nicht die
voͤllige Herrſchaft uͤber ſich in ſolchen Stuͤcken, auf
denen ihrer Meinung nach ihre Ehre beruhet?
(Jch verdamme ſie noch nicht: ich unterſuche die
Sache nur.) Laͤßt ſie ſich ſo weit treiben, daß ſie
verſpricht, ihres Vaters Haus zu verlaſſen und
mit ihm davon zu gehen, da ſie ihn doch kennet?
und zwar dieſes unter der Bedingung, daß er ſie
nicht heyrathen ſoll, bis eine ſehr zufaͤllige, eine
unwahrſcheinliche Veraͤnderung erfolget ſeyn wird?
Man gebe zu, daß ihre Umſtaͤnde ein jedes anderes
Frauenzimmer entſchuldigen koͤñten. Solte aber eine
Clariſſa durch Umſtaͤnde verfuͤhret werden koͤnnen,
wenn ſie ſelbſt ſich daruͤber anklaget, daß dieſe Um-
ſtaͤnde einen Einfluß in ihr Gemuͤth gehabt haben?
Was iſt dazu zu ſagen, daß das liebe Kind ſich
entſchließt, ſein Verſprechen zuruͤck zu nehmen;
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/186>, abgerufen am 22.12.2024.
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