kommenheit fodern, so viel gelesen, daß wol ein frömmerer Mann als ich bin, darüber unsinnig wer- den oder verzweifeln könnte: Allein das Wort, Gnade, ist mir noch gantz unverständlich, ich kann mir keinen Begrif davon machen, wie die Gnade wircken soll. Verdencken sie es mir also nicht, wenn ich mir ihr Vorbild als ein sichtbares Hülfs-Mit- tel meiner Besserung ausbitte. So lange bis ich dergleichen geistlichere Ausdrücke besser verstehen kann, soll alles das, was sie damit sagen können, bey mir unter dem Nahmen ihres Vorganges begriffen seyn.
Jch sagte: sein Ausdruck sey mir zwar etwas betrübt, und ich müßte mich billig wundern, bey einem so muntern und belesenen Kopfe so viel Dun- ckelheit anzutreffen, die ich mit keinem andern Nah- men nennen möchte, als Dunckelheit. Jndessen gefiele mir seine Aufrichtigkeit wohl. Jch wünschte, daß er bey seinen guten Gedancken bleiben möchte: seine Anmerckung sey sehr richtig, daß man keine dauerhafte Besserung hoffen könnte, wenn das Hertz nicht ein Vergnügen an der Tugend fände. Allein dieses Vergnügen entstehe nicht so gleich, sondern erst alsdenn, wenn man mit der Tugend bekannt geworden sey.
Jch hielt ihm bey nahe eine Predigt, und sagte ihm wohl zwantzig solcher Lehren: ich nahm mich aber in Acht, daß er nicht verdrießlich werden, und über meine lehrreiche Predigt eine krause Stirn ziehen möchte. Allein selbst sein Gesichte zeigete mir, daß er an dieser Unterredung Vergnügen fände, die
er
kommenheit fodern, ſo viel geleſen, daß wol ein froͤmmerer Mann als ich bin, daruͤber unſinnig wer- den oder verzweifeln koͤnnte: Allein das Wort, Gnade, iſt mir noch gantz unverſtaͤndlich, ich kann mir keinen Begrif davon machen, wie die Gnade wircken ſoll. Verdencken ſie es mir alſo nicht, wenn ich mir ihr Vorbild als ein ſichtbares Huͤlfs-Mit- tel meiner Beſſerung ausbitte. So lange bis ich dergleichen geiſtlichere Ausdruͤcke beſſer verſtehen kann, ſoll alles das, was ſie damit ſagen koͤnnen, bey mir unter dem Nahmen ihres Vorganges begriffen ſeyn.
Jch ſagte: ſein Ausdruck ſey mir zwar etwas betruͤbt, und ich muͤßte mich billig wundern, bey einem ſo muntern und beleſenen Kopfe ſo viel Dun- ckelheit anzutreffen, die ich mit keinem andern Nah- men nennen moͤchte, als Dunckelheit. Jndeſſen gefiele mir ſeine Aufrichtigkeit wohl. Jch wuͤnſchte, daß er bey ſeinen guten Gedancken bleiben moͤchte: ſeine Anmerckung ſey ſehr richtig, daß man keine dauerhafte Beſſerung hoffen koͤnnte, wenn das Hertz nicht ein Vergnuͤgen an der Tugend faͤnde. Allein dieſes Vergnuͤgen entſtehe nicht ſo gleich, ſondern erſt alsdenn, wenn man mit der Tugend bekannt geworden ſey.
Jch hielt ihm bey nahe eine Predigt, und ſagte ihm wohl zwantzig ſolcher Lehren: ich nahm mich aber in Acht, daß er nicht verdrießlich werden, und uͤber meine lehrreiche Predigt eine krauſe Stirn ziehen moͤchte. Allein ſelbſt ſein Geſichte zeigete mir, daß er an dieſer Unterredung Vergnuͤgen faͤnde, die
er
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0232"n="218"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
kommenheit fodern, ſo viel geleſen, daß wol ein<lb/>
froͤmmerer Mann als ich bin, daruͤber unſinnig wer-<lb/>
den oder verzweifeln koͤnnte: Allein das Wort,<lb/><hirendition="#fr">Gnade,</hi> iſt mir noch gantz unverſtaͤndlich, ich kann<lb/>
mir keinen Begrif davon machen, wie die Gnade<lb/>
wircken ſoll. Verdencken ſie es mir alſo nicht, wenn<lb/>
ich mir ihr Vorbild als ein ſichtbares Huͤlfs-Mit-<lb/>
tel meiner Beſſerung ausbitte. So lange bis ich<lb/>
dergleichen geiſtlichere Ausdruͤcke beſſer verſtehen<lb/>
kann, ſoll alles das, was ſie damit ſagen koͤnnen,<lb/>
bey mir unter dem Nahmen ihres <hirendition="#fr">Vorganges</hi><lb/>
begriffen ſeyn.</p><lb/><p>Jch ſagte: ſein Ausdruck ſey mir zwar etwas<lb/>
betruͤbt, und ich muͤßte mich billig wundern, bey<lb/>
einem ſo muntern und beleſenen Kopfe ſo viel Dun-<lb/>
ckelheit anzutreffen, die ich mit keinem andern Nah-<lb/>
men nennen moͤchte, als Dunckelheit. Jndeſſen<lb/>
gefiele mir ſeine Aufrichtigkeit wohl. Jch wuͤnſchte,<lb/>
daß er bey ſeinen guten Gedancken bleiben moͤchte:<lb/>ſeine Anmerckung ſey ſehr richtig, daß man keine<lb/>
dauerhafte Beſſerung hoffen koͤnnte, wenn das<lb/>
Hertz nicht ein Vergnuͤgen an der Tugend faͤnde.<lb/>
Allein dieſes Vergnuͤgen entſtehe nicht ſo gleich,<lb/>ſondern erſt alsdenn, wenn man mit der Tugend<lb/>
bekannt geworden ſey.</p><lb/><p>Jch hielt ihm bey nahe eine Predigt, und ſagte<lb/>
ihm wohl zwantzig ſolcher Lehren: ich nahm mich<lb/>
aber in Acht, daß er nicht verdrießlich werden,<lb/>
und uͤber meine lehrreiche Predigt eine krauſe Stirn<lb/>
ziehen moͤchte. Allein ſelbſt ſein Geſichte zeigete mir,<lb/>
daß er an dieſer Unterredung Vergnuͤgen faͤnde, die<lb/><fwplace="bottom"type="catch">er</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[218/0232]
kommenheit fodern, ſo viel geleſen, daß wol ein
froͤmmerer Mann als ich bin, daruͤber unſinnig wer-
den oder verzweifeln koͤnnte: Allein das Wort,
Gnade, iſt mir noch gantz unverſtaͤndlich, ich kann
mir keinen Begrif davon machen, wie die Gnade
wircken ſoll. Verdencken ſie es mir alſo nicht, wenn
ich mir ihr Vorbild als ein ſichtbares Huͤlfs-Mit-
tel meiner Beſſerung ausbitte. So lange bis ich
dergleichen geiſtlichere Ausdruͤcke beſſer verſtehen
kann, ſoll alles das, was ſie damit ſagen koͤnnen,
bey mir unter dem Nahmen ihres Vorganges
begriffen ſeyn.
Jch ſagte: ſein Ausdruck ſey mir zwar etwas
betruͤbt, und ich muͤßte mich billig wundern, bey
einem ſo muntern und beleſenen Kopfe ſo viel Dun-
ckelheit anzutreffen, die ich mit keinem andern Nah-
men nennen moͤchte, als Dunckelheit. Jndeſſen
gefiele mir ſeine Aufrichtigkeit wohl. Jch wuͤnſchte,
daß er bey ſeinen guten Gedancken bleiben moͤchte:
ſeine Anmerckung ſey ſehr richtig, daß man keine
dauerhafte Beſſerung hoffen koͤnnte, wenn das
Hertz nicht ein Vergnuͤgen an der Tugend faͤnde.
Allein dieſes Vergnuͤgen entſtehe nicht ſo gleich,
ſondern erſt alsdenn, wenn man mit der Tugend
bekannt geworden ſey.
Jch hielt ihm bey nahe eine Predigt, und ſagte
ihm wohl zwantzig ſolcher Lehren: ich nahm mich
aber in Acht, daß er nicht verdrießlich werden,
und uͤber meine lehrreiche Predigt eine krauſe Stirn
ziehen moͤchte. Allein ſelbſt ſein Geſichte zeigete mir,
daß er an dieſer Unterredung Vergnuͤgen faͤnde, die
er
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/232>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.