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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

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er von selbst wieder fortsetzte, als ich ein paarmahl
abbrach, zu versuchen, ob er mir blos aus Gefäl-
ligkeit zuhörete. Er erzählte mir noch eine doppelte
Probe, daß er im Stande sey bisweilen ernstlichere
Gedancken zu fassen.

Er bekam nehmlich einmahl in einer Schlägerey
eine gefährliche Wunde an dem lincken Arm, da-
von er mir noch die Narbe zeigete. Ohngeachtet er
sehr viel Blut verlohren hätte, weil eine der grö-
sten Adern getroffen sey, so habe ihn dennoch ein
schweres Fieber befallen. Es sey so weit gekom-
men, daß er seine Genesung nicht mehr gewünscht,
und seine Freunde sie nicht mehr gehoffet hätten.
Sein Hertz sey einen Monath lang so geändert wor-
den, daß er einen Abscheu an seinem vorigen Leben
und insonderheit an dem Zorn gehabt hätte, da-
durch er in diese übeln Umstände, und sein Gegen-
theil, welcher der angreiffende Theil gewesen, in
noch viel schlimmere Umstände gerathen sey. Er
habe in der Zeit Gedancken gehabt, deren er sich
jetzt noch mit Vergnügen erinnere. Es sey zwar
mit seiner leiblichen Besserung der gute Anfang sei-
ner Gemüths-Besserung wieder verschwunden: al-
lein er habe den guten Vorsatz mit solchem Wider-
willen fahren lassen, daß er sich nicht hätte enthalten
können, diesen Verlust in einem ungereimten Gedich-
te zu bedauren, welches ohne Kunst und Verstellung
sey. Er sagte mir einige Verse desselben vor, die
durch seine Aussprache schöner wurden, als sie an
sich selbst waren; ob sie gleich nicht von den schlech-
testen waren. Die Gedancken, die er in Verse

ein-



er von ſelbſt wieder fortſetzte, als ich ein paarmahl
abbrach, zu verſuchen, ob er mir blos aus Gefaͤl-
ligkeit zuhoͤrete. Er erzaͤhlte mir noch eine doppelte
Probe, daß er im Stande ſey bisweilen ernſtlichere
Gedancken zu faſſen.

Er bekam nehmlich einmahl in einer Schlaͤgerey
eine gefaͤhrliche Wunde an dem lincken Arm, da-
von er mir noch die Narbe zeigete. Ohngeachtet er
ſehr viel Blut verlohren haͤtte, weil eine der groͤ-
ſten Adern getroffen ſey, ſo habe ihn dennoch ein
ſchweres Fieber befallen. Es ſey ſo weit gekom-
men, daß er ſeine Geneſung nicht mehr gewuͤnſcht,
und ſeine Freunde ſie nicht mehr gehoffet haͤtten.
Sein Hertz ſey einen Monath lang ſo geaͤndert wor-
den, daß er einen Abſcheu an ſeinem vorigen Leben
und inſonderheit an dem Zorn gehabt haͤtte, da-
durch er in dieſe uͤbeln Umſtaͤnde, und ſein Gegen-
theil, welcher der angreiffende Theil geweſen, in
noch viel ſchlimmere Umſtaͤnde gerathen ſey. Er
habe in der Zeit Gedancken gehabt, deren er ſich
jetzt noch mit Vergnuͤgen erinnere. Es ſey zwar
mit ſeiner leiblichen Beſſerung der gute Anfang ſei-
ner Gemuͤths-Beſſerung wieder verſchwunden: al-
lein er habe den guten Vorſatz mit ſolchem Wider-
willen fahren laſſen, daß er ſich nicht haͤtte enthalten
koͤnnen, dieſen Verluſt in einem ungereimten Gedich-
te zu bedauren, welches ohne Kunſt und Verſtellung
ſey. Er ſagte mir einige Verſe deſſelben vor, die
durch ſeine Ausſprache ſchoͤner wurden, als ſie an
ſich ſelbſt waren; ob ſie gleich nicht von den ſchlech-
teſten waren. Die Gedancken, die er in Verſe

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[219/0233] er von ſelbſt wieder fortſetzte, als ich ein paarmahl abbrach, zu verſuchen, ob er mir blos aus Gefaͤl- ligkeit zuhoͤrete. Er erzaͤhlte mir noch eine doppelte Probe, daß er im Stande ſey bisweilen ernſtlichere Gedancken zu faſſen. Er bekam nehmlich einmahl in einer Schlaͤgerey eine gefaͤhrliche Wunde an dem lincken Arm, da- von er mir noch die Narbe zeigete. Ohngeachtet er ſehr viel Blut verlohren haͤtte, weil eine der groͤ- ſten Adern getroffen ſey, ſo habe ihn dennoch ein ſchweres Fieber befallen. Es ſey ſo weit gekom- men, daß er ſeine Geneſung nicht mehr gewuͤnſcht, und ſeine Freunde ſie nicht mehr gehoffet haͤtten. Sein Hertz ſey einen Monath lang ſo geaͤndert wor- den, daß er einen Abſcheu an ſeinem vorigen Leben und inſonderheit an dem Zorn gehabt haͤtte, da- durch er in dieſe uͤbeln Umſtaͤnde, und ſein Gegen- theil, welcher der angreiffende Theil geweſen, in noch viel ſchlimmere Umſtaͤnde gerathen ſey. Er habe in der Zeit Gedancken gehabt, deren er ſich jetzt noch mit Vergnuͤgen erinnere. Es ſey zwar mit ſeiner leiblichen Beſſerung der gute Anfang ſei- ner Gemuͤths-Beſſerung wieder verſchwunden: al- lein er habe den guten Vorſatz mit ſolchem Wider- willen fahren laſſen, daß er ſich nicht haͤtte enthalten koͤnnen, dieſen Verluſt in einem ungereimten Gedich- te zu bedauren, welches ohne Kunſt und Verſtellung ſey. Er ſagte mir einige Verſe deſſelben vor, die durch ſeine Ausſprache ſchoͤner wurden, als ſie an ſich ſelbſt waren; ob ſie gleich nicht von den ſchlech- teſten waren. Die Gedancken, die er in Verſe ein-

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/233>, abgerufen am 22.12.2024.