Jch erwiederte, vielleicht mit einer Kaltsinnig- keit, die sich zu seinem artigen Anerbieten nicht schick- te: ich hoffete gantz gewiß auf eine baldige Nach- richt von meinen Freunden. Währender Zeit wollte ich niemanden die Feindschaft der Meinigen zuzie- hen; und am allerwenigsten der Frau Norton, von der ich hoffete, daß sie mir durch ihre Vermit- telung zu statten kommen könnte, wenn sie sich nicht allzufrüh offenbar zu meiner Parthey schlüge. Die gute Frau hat auch ein so vornehmes Gemüth, ohn- geachtet ihrer wenigen Mittel, daß sie ungern jemanden auf eine bedenckliche Art verbunden seyn würde.
Auf eine bedenckliche Art? sagte er. Haben nicht tugendhafte Personen ein Recht, jedermanns Wohlthaten anzunehmen? Die Frau Norton hat solche Eigenschaften an sich, daß ich mich verpflich- tet halten würde, ihr zu dienen, so bald sie mir die- se Erlaubniß giebet; wenn sie auch meine Verpflich- tung nicht dadurch vermehrete, daß sie mir es mög- lich macht, ihnen ein Vergnügen zu verschaffen.
Wie ist es möglich, daß ein Mensch, der im Stande ist so richtig zu dencken, dennoch durch übele Gewohnheiten so verdorben wird, daß er die Gaben, die ihm die Natur verliehen hat, durch Laster ver- stellet! Jch dachte bey mir selbst: sollte bey einem solchen Menschen die Hoffnung, die er mir neulich machte, ungegründet seyn, daß er durch ein Vorbild, das ich ihm um sein selbst und um meinet willen zu geben schuldig bin, sollte können zu seinem und zu meinem Besten geändert werden!
Jch
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Jch erwiederte, vielleicht mit einer Kaltſinnig- keit, die ſich zu ſeinem artigen Anerbieten nicht ſchick- te: ich hoffete gantz gewiß auf eine baldige Nach- richt von meinen Freunden. Waͤhrender Zeit wollte ich niemanden die Feindſchaft der Meinigen zuzie- hen; und am allerwenigſten der Frau Norton, von der ich hoffete, daß ſie mir durch ihre Vermit- telung zu ſtatten kommen koͤnnte, wenn ſie ſich nicht allzufruͤh offenbar zu meiner Parthey ſchluͤge. Die gute Frau hat auch ein ſo vornehmes Gemuͤth, ohn- geachtet ihrer wenigen Mittel, daß ſie ungern jemanden auf eine bedenckliche Art verbunden ſeyn wuͤrde.
Auf eine bedenckliche Art? ſagte er. Haben nicht tugendhafte Perſonen ein Recht, jedermanns Wohlthaten anzunehmen? Die Frau Norton hat ſolche Eigenſchaften an ſich, daß ich mich verpflich- tet halten wuͤrde, ihr zu dienen, ſo bald ſie mir die- ſe Erlaubniß giebet; wenn ſie auch meine Verpflich- tung nicht dadurch vermehrete, daß ſie mir es moͤg- lich macht, ihnen ein Vergnuͤgen zu verſchaffen.
Wie iſt es moͤglich, daß ein Menſch, der im Stande iſt ſo richtig zu dencken, dennoch durch uͤbele Gewohnheiten ſo verdorben wird, daß er die Gaben, die ihm die Natur verliehen hat, durch Laſter ver- ſtellet! Jch dachte bey mir ſelbſt: ſollte bey einem ſolchen Menſchen die Hoffnung, die er mir neulich machte, ungegruͤndet ſeyn, daß er durch ein Vorbild, das ich ihm um ſein ſelbſt und um meinet willen zu geben ſchuldig bin, ſollte koͤnnen zu ſeinem und zu meinem Beſten geaͤndert werden!
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Jch erwiederte, vielleicht mit einer Kaltſinnig-
keit, die ſich zu ſeinem artigen Anerbieten nicht ſchick-
te: ich hoffete gantz gewiß auf eine baldige Nach-
richt von meinen Freunden. Waͤhrender Zeit wollte
ich niemanden die Feindſchaft der Meinigen zuzie-
hen; und am allerwenigſten der Frau Norton,
von der ich hoffete, daß ſie mir durch ihre Vermit-
telung zu ſtatten kommen koͤnnte, wenn ſie ſich nicht
allzufruͤh offenbar zu meiner Parthey ſchluͤge. Die
gute Frau hat auch ein ſo vornehmes Gemuͤth, ohn-
geachtet ihrer wenigen Mittel, daß ſie ungern
jemanden auf eine bedenckliche Art verbunden ſeyn
wuͤrde.
Auf eine bedenckliche Art? ſagte er. Haben
nicht tugendhafte Perſonen ein Recht, jedermanns
Wohlthaten anzunehmen? Die Frau Norton hat
ſolche Eigenſchaften an ſich, daß ich mich verpflich-
tet halten wuͤrde, ihr zu dienen, ſo bald ſie mir die-
ſe Erlaubniß giebet; wenn ſie auch meine Verpflich-
tung nicht dadurch vermehrete, daß ſie mir es moͤg-
lich macht, ihnen ein Vergnuͤgen zu verſchaffen.
Wie iſt es moͤglich, daß ein Menſch, der im
Stande iſt ſo richtig zu dencken, dennoch durch uͤbele
Gewohnheiten ſo verdorben wird, daß er die Gaben,
die ihm die Natur verliehen hat, durch Laſter ver-
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ſolchen Menſchen die Hoffnung, die er mir neulich
machte, ungegruͤndet ſeyn, daß er durch ein Vorbild,
das ich ihm um ſein ſelbſt und um meinet willen zu
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/279>, abgerufen am 22.12.2024.
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