derstand leisten und dennoch weichen: wenn der er- ste Streit vorüber ist, so wird sich zeigen, ob die zweyte und dritte Gegenwehr nicht gelinder ist, und ob sich die Gegenwehr nicht endlich in Willigkeit ver- wandelt. Jch will dir das mit einem Gleichniß von einem gefangenen Vogel erläutern: denn als Kinder fangen wir Vögel, und wenn wir erwachsen sind, die Mädchens: mit beyden gehen wir aus Muth- willen grausam um.
Hast du nie bemerckt, wie ein gefangenes Vögel- chen sich nach und nach in sein Unglück schicken lernt? Zuerst will es weder essen noch trincken, es stößt sich und fliegt gegen das Bauer, bis dieses mit seinen ar- tigen Federn bedeckt ist. Bald steckt es den Kopf heraus, allein die Schultern wollen nicht nach: mit Mühe zieht es den Kopf zurücke, und schnappt nach der Luft: es setzet sich, es richtet sich in die Höhe, und betrachtet zuerst mit tiefsinnigen Augen sein durchsichtiges Gefängniß; es thut einen neuen Ver- such; es hohlt von neuen Athem, zerstößt sich Kopf und Flügel, beißt in den Drath, und hacket seinen vergnügten Ober Herrn in die Finger. Wenn es gantz ermüdet ist, vergeblich seine Freyheit zu suchen, und keine Luft mehr schöpfen kann, so legt es sich auf den Boden des Bauers nieder, und betrauret sein hartes Schicksal und seine verlohrne Freyheit. Wenn einige Tage verstrichen sind, so nimt seine Liebe zur Freyheit ab, weil es siehet, daß es sie doch nicht wieder erhalten wird; es gewöhnt sich zu seiner neuen Wohnung, hüpft von einem Stock auf den andern, und bekommt sein voriges fröhliches
Wesen
derſtand leiſten und dennoch weichen: wenn der er- ſte Streit voruͤber iſt, ſo wird ſich zeigen, ob die zweyte und dritte Gegenwehr nicht gelinder iſt, und ob ſich die Gegenwehr nicht endlich in Willigkeit ver- wandelt. Jch will dir das mit einem Gleichniß von einem gefangenen Vogel erlaͤutern: denn als Kinder fangen wir Voͤgel, und wenn wir erwachſen ſind, die Maͤdchens: mit beyden gehen wir aus Muth- willen grauſam um.
Haſt du nie bemerckt, wie ein gefangenes Voͤgel- chen ſich nach und nach in ſein Ungluͤck ſchicken lernt? Zuerſt will es weder eſſen noch trincken, es ſtoͤßt ſich und fliegt gegen das Bauer, bis dieſes mit ſeinen ar- tigen Federn bedeckt iſt. Bald ſteckt es den Kopf heraus, allein die Schultern wollen nicht nach: mit Muͤhe zieht es den Kopf zuruͤcke, und ſchnappt nach der Luft: es ſetzet ſich, es richtet ſich in die Hoͤhe, und betrachtet zuerſt mit tiefſinnigen Augen ſein durchſichtiges Gefaͤngniß; es thut einen neuen Ver- ſuch; es hohlt von neuen Athem, zerſtoͤßt ſich Kopf und Fluͤgel, beißt in den Drath, und hacket ſeinen vergnuͤgten Ober Herrn in die Finger. Wenn es gantz ermuͤdet iſt, vergeblich ſeine Freyheit zu ſuchen, und keine Luft mehr ſchoͤpfen kann, ſo legt es ſich auf den Boden des Bauers nieder, und betrauret ſein hartes Schickſal und ſeine verlohrne Freyheit. Wenn einige Tage verſtrichen ſind, ſo nimt ſeine Liebe zur Freyheit ab, weil es ſiehet, daß es ſie doch nicht wieder erhalten wird; es gewoͤhnt ſich zu ſeiner neuen Wohnung, huͤpft von einem Stock auf den andern, und bekommt ſein voriges froͤhliches
Weſen
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derſtand leiſten und dennoch weichen: wenn der er-
ſte Streit voruͤber iſt, ſo wird ſich zeigen, ob die
zweyte und dritte Gegenwehr nicht gelinder iſt, und
ob ſich die Gegenwehr nicht endlich in Willigkeit ver-
wandelt. Jch will dir das mit einem Gleichniß von
einem gefangenen Vogel erlaͤutern: denn als Kinder
fangen wir Voͤgel, und wenn wir erwachſen ſind,
die Maͤdchens: mit beyden gehen wir aus Muth-
willen grauſam um.
Haſt du nie bemerckt, wie ein gefangenes Voͤgel-
chen ſich nach und nach in ſein Ungluͤck ſchicken lernt?
Zuerſt will es weder eſſen noch trincken, es ſtoͤßt ſich
und fliegt gegen das Bauer, bis dieſes mit ſeinen ar-
tigen Federn bedeckt iſt. Bald ſteckt es den Kopf
heraus, allein die Schultern wollen nicht nach: mit
Muͤhe zieht es den Kopf zuruͤcke, und ſchnappt nach
der Luft: es ſetzet ſich, es richtet ſich in die Hoͤhe,
und betrachtet zuerſt mit tiefſinnigen Augen ſein
durchſichtiges Gefaͤngniß; es thut einen neuen Ver-
ſuch; es hohlt von neuen Athem, zerſtoͤßt ſich Kopf
und Fluͤgel, beißt in den Drath, und hacket ſeinen
vergnuͤgten Ober Herrn in die Finger. Wenn es
gantz ermuͤdet iſt, vergeblich ſeine Freyheit zu ſuchen,
und keine Luft mehr ſchoͤpfen kann, ſo legt es ſich auf
den Boden des Bauers nieder, und betrauret ſein
hartes Schickſal und ſeine verlohrne Freyheit.
Wenn einige Tage verſtrichen ſind, ſo nimt ſeine
Liebe zur Freyheit ab, weil es ſiehet, daß es ſie doch
nicht wieder erhalten wird; es gewoͤhnt ſich zu ſeiner
neuen Wohnung, huͤpft von einem Stock auf den
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 538. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/552>, abgerufen am 22.12.2024.
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