Wesen wieder, welches es täglich zu seiner und seines Besitzers Belustigung durch sein Singen zu erkennen giebt.
Jch kann nicht leugnen, daß ich einmal einen Vo- gel gesehen habe, der sich zu Tode hungerte, und vor Kummer über seine Gefangenschaft starb. Al- lein ich habe nie ein Mädchen angetroffen, das so thöricht gewesen wäre. Drohungen genug habe ich gehört, welche die liebenswürdigen Kinder gegen ihr Leben ausstiessen. Man rühmt das schöne Ge- schlecht nicht allzuschmeichlerisch, wenn man ihnen mehr Verstand zuschreibt, als die Vögel besitzen: und dennoch müssen wir alle gestehen, daß es schwerer ist, Vögel als Mädchens zu fangen.
Wenn ich keinen weitern Versuch anstelle, Bel- ford, wie soll ich denn erfahren, ob dieses angeneh- me Vögelchen sich nicht endlich bewegen liesse, mich durch sein artiges Lied zu belustigen, und künftig mit seinen Umständen eben so zufrieden zu seyn, als die Vögel, so scheu sie auch sind, endlich ihr Gefäng- niß lieb gewinnen?
Jch kann leicht errathen, was die Haupt-Ursache ist, die dich zu so ungestümen Vorbitten verleitet. Du wechselst Briefe mit dem Lord M. der voller Un- geduld ist, und schon lange gewünschet hat, mich in Fesseln zu sehen. Du willst dich gern um den gnä- digen podagrischen Herrn verdient machen, weil du eine Absicht auf eine seiner Basen hast. Allein weist du nicht, daß dir mein Ja-Wort fehlen wird?
Ein solches Mädchen, als die Charlotte ist, wird sich sehr an dir erquicken, wenn ich ihr erzähle,
wie
Weſen wieder, welches es taͤglich zu ſeiner und ſeines Beſitzers Beluſtigung durch ſein Singen zu erkennen giebt.
Jch kann nicht leugnen, daß ich einmal einen Vo- gel geſehen habe, der ſich zu Tode hungerte, und vor Kummer uͤber ſeine Gefangenſchaft ſtarb. Al- lein ich habe nie ein Maͤdchen angetroffen, das ſo thoͤricht geweſen waͤre. Drohungen genug habe ich gehoͤrt, welche die liebenswuͤrdigen Kinder gegen ihr Leben ausſtieſſen. Man ruͤhmt das ſchoͤne Ge- ſchlecht nicht allzuſchmeichleriſch, wenn man ihnen mehr Verſtand zuſchreibt, als die Voͤgel beſitzen: und dennoch muͤſſen wir alle geſtehen, daß es ſchwerer iſt, Voͤgel als Maͤdchens zu fangen.
Wenn ich keinen weitern Verſuch anſtelle, Bel- ford, wie ſoll ich denn erfahren, ob dieſes angeneh- me Voͤgelchen ſich nicht endlich bewegen lieſſe, mich durch ſein artiges Lied zu beluſtigen, und kuͤnftig mit ſeinen Umſtaͤnden eben ſo zufrieden zu ſeyn, als die Voͤgel, ſo ſcheu ſie auch ſind, endlich ihr Gefaͤng- niß lieb gewinnen?
Jch kann leicht errathen, was die Haupt-Urſache iſt, die dich zu ſo ungeſtuͤmen Vorbitten verleitet. Du wechſelſt Briefe mit dem Lord M. der voller Un- geduld iſt, und ſchon lange gewuͤnſchet hat, mich in Feſſeln zu ſehen. Du willſt dich gern um den gnaͤ- digen podagriſchen Herrn verdient machen, weil du eine Abſicht auf eine ſeiner Baſen haſt. Allein weiſt du nicht, daß dir mein Ja-Wort fehlen wird?
Ein ſolches Maͤdchen, als die Charlotte iſt, wird ſich ſehr an dir erquicken, wenn ich ihr erzaͤhle,
wie
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0553"n="539"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
Weſen wieder, welches es taͤglich zu ſeiner und ſeines<lb/>
Beſitzers Beluſtigung durch ſein Singen zu erkennen<lb/>
giebt.</p><lb/><p>Jch kann nicht leugnen, daß ich einmal einen Vo-<lb/>
gel geſehen habe, der ſich zu Tode hungerte, und<lb/>
vor Kummer uͤber ſeine Gefangenſchaft ſtarb. Al-<lb/>
lein ich habe nie ein Maͤdchen angetroffen, das ſo<lb/>
thoͤricht geweſen waͤre. Drohungen genug habe ich<lb/>
gehoͤrt, welche die liebenswuͤrdigen Kinder gegen<lb/>
ihr Leben ausſtieſſen. Man ruͤhmt das ſchoͤne Ge-<lb/>ſchlecht nicht allzuſchmeichleriſch, wenn man ihnen<lb/>
mehr Verſtand zuſchreibt, als die Voͤgel beſitzen:<lb/>
und dennoch muͤſſen wir alle geſtehen, daß es ſchwerer<lb/>
iſt, Voͤgel als Maͤdchens zu fangen.</p><lb/><p>Wenn ich keinen weitern Verſuch anſtelle, <hirendition="#fr">Bel-<lb/>
ford,</hi> wie ſoll ich denn erfahren, ob dieſes angeneh-<lb/>
me Voͤgelchen ſich nicht endlich bewegen lieſſe, mich<lb/>
durch ſein artiges Lied zu beluſtigen, und kuͤnftig mit<lb/>ſeinen Umſtaͤnden eben ſo zufrieden zu ſeyn, als die<lb/>
Voͤgel, ſo ſcheu ſie auch ſind, endlich ihr Gefaͤng-<lb/>
niß lieb gewinnen?</p><lb/><p>Jch kann leicht errathen, was die Haupt-Urſache<lb/>
iſt, die dich zu ſo ungeſtuͤmen Vorbitten verleitet.<lb/>
Du wechſelſt Briefe mit dem Lord M. der voller Un-<lb/>
geduld iſt, und ſchon lange gewuͤnſchet hat, mich in<lb/>
Feſſeln zu ſehen. Du willſt dich gern um den gnaͤ-<lb/>
digen podagriſchen Herrn verdient machen, weil du<lb/>
eine Abſicht auf eine ſeiner Baſen haſt. Allein weiſt<lb/>
du nicht, daß dir mein Ja-Wort fehlen wird?</p><lb/><p>Ein ſolches Maͤdchen, als die <hirendition="#fr">Charlotte</hi> iſt,<lb/>
wird ſich ſehr an dir erquicken, wenn ich ihr erzaͤhle,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">wie</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[539/0553]
Weſen wieder, welches es taͤglich zu ſeiner und ſeines
Beſitzers Beluſtigung durch ſein Singen zu erkennen
giebt.
Jch kann nicht leugnen, daß ich einmal einen Vo-
gel geſehen habe, der ſich zu Tode hungerte, und
vor Kummer uͤber ſeine Gefangenſchaft ſtarb. Al-
lein ich habe nie ein Maͤdchen angetroffen, das ſo
thoͤricht geweſen waͤre. Drohungen genug habe ich
gehoͤrt, welche die liebenswuͤrdigen Kinder gegen
ihr Leben ausſtieſſen. Man ruͤhmt das ſchoͤne Ge-
ſchlecht nicht allzuſchmeichleriſch, wenn man ihnen
mehr Verſtand zuſchreibt, als die Voͤgel beſitzen:
und dennoch muͤſſen wir alle geſtehen, daß es ſchwerer
iſt, Voͤgel als Maͤdchens zu fangen.
Wenn ich keinen weitern Verſuch anſtelle, Bel-
ford, wie ſoll ich denn erfahren, ob dieſes angeneh-
me Voͤgelchen ſich nicht endlich bewegen lieſſe, mich
durch ſein artiges Lied zu beluſtigen, und kuͤnftig mit
ſeinen Umſtaͤnden eben ſo zufrieden zu ſeyn, als die
Voͤgel, ſo ſcheu ſie auch ſind, endlich ihr Gefaͤng-
niß lieb gewinnen?
Jch kann leicht errathen, was die Haupt-Urſache
iſt, die dich zu ſo ungeſtuͤmen Vorbitten verleitet.
Du wechſelſt Briefe mit dem Lord M. der voller Un-
geduld iſt, und ſchon lange gewuͤnſchet hat, mich in
Feſſeln zu ſehen. Du willſt dich gern um den gnaͤ-
digen podagriſchen Herrn verdient machen, weil du
eine Abſicht auf eine ſeiner Baſen haſt. Allein weiſt
du nicht, daß dir mein Ja-Wort fehlen wird?
Ein ſolches Maͤdchen, als die Charlotte iſt,
wird ſich ſehr an dir erquicken, wenn ich ihr erzaͤhle,
wie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 539. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/553>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.