Aller Vortheil, den wir von Kindern haben, bestehet darinn. Wann sie klein sind, so halten wir ihnen alles zu gute, und sind selbst in ihre Unarten verliebt: wenn sie aber erwachsen sind, so meinen sie, ihre Eltern wären nur um ihrent- willen in der Welt, und müßten um ihrentwillen alles verläugnen, was ihnen sonst angenehm seyn könnte. Jch weiß, daß ein Stiefvater meinem Aennichen gantz unerträglich seyn würde: sie würde sich nicht halten oder mäßigen können, so bald sie nur glaubte, daß Ernst aus der Sache würde. Jch fürchte mich zwar nicht vor meiner Tochter, und es würde sich auch nicht schicken, daß ich mich vor ihr fürchten sollte. Allein sie hat recht den Kopf ihres armen seeligen Vaters: der war sehr heftig. Sie können leicht dencken, daß ich mich scheuen muß, mich in eine Sache einzulassen, dabey ich zum voraus sehe, daß ich mich entweder von meiner Tochter lossagen muß, oder daß sie sich von mir lossagen würde. Das thut man nicht, wenn es einem nicht sehr um das Heyrathen zu thun ist: und so bin ich, Gott Lob! nicht gesinnet.
Jch bin nun zehn Jahr eine Witwe, und habe niemanden, der mir befehlen kann; man sagt auch, daß ich nicht wohl jemanden über mir lei- den könne. Jch glaube also, oder ich weiß viel- mehr gewiß, daß wir so, wie wir jetzt sind, am besten sind. Wir brauchen einander nicht um des Geldes willen zu heyrathen, denn wir haben schon so mehr, als wir verzehren können. Jch
kenne
Aller Vortheil, den wir von Kindern haben, beſtehet darinn. Wann ſie klein ſind, ſo halten wir ihnen alles zu gute, und ſind ſelbſt in ihre Unarten verliebt: wenn ſie aber erwachſen ſind, ſo meinen ſie, ihre Eltern waͤren nur um ihrent- willen in der Welt, und muͤßten um ihrentwillen alles verlaͤugnen, was ihnen ſonſt angenehm ſeyn koͤnnte. Jch weiß, daß ein Stiefvater meinem Aennichen gantz unertraͤglich ſeyn wuͤrde: ſie wuͤrde ſich nicht halten oder maͤßigen koͤnnen, ſo bald ſie nur glaubte, daß Ernſt aus der Sache wuͤrde. Jch fuͤrchte mich zwar nicht vor meiner Tochter, und es wuͤrde ſich auch nicht ſchicken, daß ich mich vor ihr fuͤrchten ſollte. Allein ſie hat recht den Kopf ihres armen ſeeligen Vaters: der war ſehr heftig. Sie koͤnnen leicht dencken, daß ich mich ſcheuen muß, mich in eine Sache einzulaſſen, dabey ich zum voraus ſehe, daß ich mich entweder von meiner Tochter losſagen muß, oder daß ſie ſich von mir losſagen wuͤrde. Das thut man nicht, wenn es einem nicht ſehr um das Heyrathen zu thun iſt: und ſo bin ich, Gott Lob! nicht geſinnet.
Jch bin nun zehn Jahr eine Witwe, und habe niemanden, der mir befehlen kann; man ſagt auch, daß ich nicht wohl jemanden uͤber mir lei- den koͤnne. Jch glaube alſo, oder ich weiß viel- mehr gewiß, daß wir ſo, wie wir jetzt ſind, am beſten ſind. Wir brauchen einander nicht um des Geldes willen zu heyrathen, denn wir haben ſchon ſo mehr, als wir verzehren koͤnnen. Jch
kenne
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Aller Vortheil, den wir von Kindern haben,
beſtehet darinn. Wann ſie klein ſind, ſo halten
wir ihnen alles zu gute, und ſind ſelbſt in ihre
Unarten verliebt: wenn ſie aber erwachſen ſind,
ſo meinen ſie, ihre Eltern waͤren nur um ihrent-
willen in der Welt, und muͤßten um ihrentwillen
alles verlaͤugnen, was ihnen ſonſt angenehm ſeyn
koͤnnte. Jch weiß, daß ein Stiefvater meinem
Aennichen gantz unertraͤglich ſeyn wuͤrde: ſie
wuͤrde ſich nicht halten oder maͤßigen koͤnnen, ſo
bald ſie nur glaubte, daß Ernſt aus der Sache
wuͤrde. Jch fuͤrchte mich zwar nicht vor meiner
Tochter, und es wuͤrde ſich auch nicht ſchicken,
daß ich mich vor ihr fuͤrchten ſollte. Allein ſie
hat recht den Kopf ihres armen ſeeligen Vaters:
der war ſehr heftig. Sie koͤnnen leicht dencken,
daß ich mich ſcheuen muß, mich in eine Sache
einzulaſſen, dabey ich zum voraus ſehe, daß ich
mich entweder von meiner Tochter losſagen muß,
oder daß ſie ſich von mir losſagen wuͤrde. Das
thut man nicht, wenn es einem nicht ſehr um das
Heyrathen zu thun iſt: und ſo bin ich, Gott Lob!
nicht geſinnet.
Jch bin nun zehn Jahr eine Witwe, und
habe niemanden, der mir befehlen kann; man ſagt
auch, daß ich nicht wohl jemanden uͤber mir lei-
den koͤnne. Jch glaube alſo, oder ich weiß viel-
mehr gewiß, daß wir ſo, wie wir jetzt ſind, am
beſten ſind. Wir brauchen einander nicht um
des Geldes willen zu heyrathen, denn wir haben
ſchon ſo mehr, als wir verzehren koͤnnen. Jch
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/194>, abgerufen am 21.11.2024.
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