Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite


Jch sagte: Erlauben sie mir einen Engel, und
nicht ein Frauenzimmer anzubeten! Vergeben sie
mir, liebstes Kind. Wenn sie ein Kind und nicht
eine Gottheit sind, so vergeben sie mir. Vergeben
sie meiner Unbedachtsamkeit, und daß ich mir selbst
so ungleich bin. Haben sie Mitleiden mit meiner
Schwachheit. Wer kann meiner Clarissa gleich
seyn?

Jch zitterte vor Liebe und vor Verwunderung, und
umspannete ihre Knie mit meinen Armen, so wie
sie saß. Sie bemühete sich den Augenblick aufzu-
stehen, allein sie konnte nicht, sondern fiel wieder
nieder. Kein Frauenzimmer kann in größeres
Schrecken gerathen, als sie bey dieser Gelegenheit.
So frey aber meine Handlung ihrem argwöhni-
schen Hertzen scheinen konnte, so hatte ich doch kei-
nen Gedancken dabey, der nicht aus Ehrfurcht ent-
stand. Mein Hertz blieb so rein als das ihrige,
so lange sie bey mir war: denn ich bewilligte, daß
sie von mir und auf ihre Stube ginge, unter der
Bedingung, daß sie die Sänfte wegschicken, und
bald zu mir kommen wollte.

Sie hielt ihr Wort nicht. Jch wartete eine
halbe Stunde, ehe ich sie erinnern ließ. Die Ant-
wort war: es sey ihr noch nicht möglich mich zu
sprechen. Sie wollte aber kommen, so bald sie
könnte. Dorcas sagte, sie zittere noch, und hätte
kaltes Wasser und Hirschhorn gefodert.

Ein wunderbares und argwöhnisches Kind!
Jhr Schrecken ist größer, als es diesesmal nothig
ist. Ein gefürchtetes Uebel ist oft größer, als ein

wirck-


Jch ſagte: Erlauben ſie mir einen Engel, und
nicht ein Frauenzimmer anzubeten! Vergeben ſie
mir, liebſtes Kind. Wenn ſie ein Kind und nicht
eine Gottheit ſind, ſo vergeben ſie mir. Vergeben
ſie meiner Unbedachtſamkeit, und daß ich mir ſelbſt
ſo ungleich bin. Haben ſie Mitleiden mit meiner
Schwachheit. Wer kann meiner Clariſſa gleich
ſeyn?

Jch zitterte vor Liebe und vor Verwunderung, und
umſpannete ihre Knie mit meinen Armen, ſo wie
ſie ſaß. Sie bemuͤhete ſich den Augenblick aufzu-
ſtehen, allein ſie konnte nicht, ſondern fiel wieder
nieder. Kein Frauenzimmer kann in groͤßeres
Schrecken gerathen, als ſie bey dieſer Gelegenheit.
So frey aber meine Handlung ihrem argwoͤhni-
ſchen Hertzen ſcheinen konnte, ſo hatte ich doch kei-
nen Gedancken dabey, der nicht aus Ehrfurcht ent-
ſtand. Mein Hertz blieb ſo rein als das ihrige,
ſo lange ſie bey mir war: denn ich bewilligte, daß
ſie von mir und auf ihre Stube ginge, unter der
Bedingung, daß ſie die Saͤnfte wegſchicken, und
bald zu mir kommen wollte.

Sie hielt ihr Wort nicht. Jch wartete eine
halbe Stunde, ehe ich ſie erinnern ließ. Die Ant-
wort war: es ſey ihr noch nicht moͤglich mich zu
ſprechen. Sie wollte aber kommen, ſo bald ſie
koͤnnte. Dorcas ſagte, ſie zittere noch, und haͤtte
kaltes Waſſer und Hirſchhorn gefodert.

Ein wunderbares und argwoͤhniſches Kind!
Jhr Schrecken iſt groͤßer, als es dieſesmal nothig
iſt. Ein gefuͤrchtetes Uebel iſt oft groͤßer, als ein

wirck-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0238" n="232"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Jch &#x017F;agte: Erlauben &#x017F;ie mir einen Engel, und<lb/>
nicht ein Frauenzimmer anzubeten! Vergeben &#x017F;ie<lb/>
mir, lieb&#x017F;tes Kind. Wenn &#x017F;ie ein Kind und nicht<lb/>
eine Gottheit &#x017F;ind, &#x017F;o vergeben &#x017F;ie mir. Vergeben<lb/>
&#x017F;ie meiner Unbedacht&#x017F;amkeit, und daß ich mir &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
&#x017F;o ungleich bin. Haben &#x017F;ie Mitleiden mit meiner<lb/>
Schwachheit. Wer kann meiner Clari&#x017F;&#x017F;a gleich<lb/>
&#x017F;eyn?</p><lb/>
          <p>Jch zitterte vor Liebe und vor Verwunderung, und<lb/>
um&#x017F;pannete ihre Knie mit meinen Armen, &#x017F;o wie<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;aß. Sie bemu&#x0364;hete &#x017F;ich den Augenblick aufzu-<lb/>
&#x017F;tehen, allein &#x017F;ie konnte nicht, &#x017F;ondern fiel wieder<lb/>
nieder. Kein Frauenzimmer kann in gro&#x0364;ßeres<lb/>
Schrecken gerathen, als &#x017F;ie bey die&#x017F;er Gelegenheit.<lb/>
So frey aber meine Handlung ihrem argwo&#x0364;hni-<lb/>
&#x017F;chen Hertzen &#x017F;cheinen konnte, &#x017F;o hatte ich doch kei-<lb/>
nen Gedancken dabey, der nicht aus Ehrfurcht ent-<lb/>
&#x017F;tand. Mein Hertz blieb &#x017F;o rein als das ihrige,<lb/>
&#x017F;o lange &#x017F;ie bey mir war: denn ich bewilligte, daß<lb/>
&#x017F;ie von mir und auf ihre Stube ginge, unter der<lb/>
Bedingung, daß &#x017F;ie die Sa&#x0364;nfte weg&#x017F;chicken, und<lb/>
bald zu mir kommen wollte.</p><lb/>
          <p>Sie hielt ihr Wort nicht. Jch wartete eine<lb/>
halbe Stunde, ehe ich &#x017F;ie erinnern ließ. Die Ant-<lb/>
wort war: es &#x017F;ey ihr noch nicht mo&#x0364;glich mich zu<lb/>
&#x017F;prechen. Sie wollte aber kommen, &#x017F;o bald &#x017F;ie<lb/>
ko&#x0364;nnte. <hi rendition="#fr">Dorcas</hi> &#x017F;agte, &#x017F;ie zittere noch, und ha&#x0364;tte<lb/>
kaltes Wa&#x017F;&#x017F;er und Hir&#x017F;chhorn gefodert.</p><lb/>
          <p>Ein wunderbares und argwo&#x0364;hni&#x017F;ches Kind!<lb/>
Jhr Schrecken i&#x017F;t gro&#x0364;ßer, als es die&#x017F;esmal nothig<lb/>
i&#x017F;t. Ein gefu&#x0364;rchtetes Uebel i&#x017F;t oft gro&#x0364;ßer, als ein<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wirck-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[232/0238] Jch ſagte: Erlauben ſie mir einen Engel, und nicht ein Frauenzimmer anzubeten! Vergeben ſie mir, liebſtes Kind. Wenn ſie ein Kind und nicht eine Gottheit ſind, ſo vergeben ſie mir. Vergeben ſie meiner Unbedachtſamkeit, und daß ich mir ſelbſt ſo ungleich bin. Haben ſie Mitleiden mit meiner Schwachheit. Wer kann meiner Clariſſa gleich ſeyn? Jch zitterte vor Liebe und vor Verwunderung, und umſpannete ihre Knie mit meinen Armen, ſo wie ſie ſaß. Sie bemuͤhete ſich den Augenblick aufzu- ſtehen, allein ſie konnte nicht, ſondern fiel wieder nieder. Kein Frauenzimmer kann in groͤßeres Schrecken gerathen, als ſie bey dieſer Gelegenheit. So frey aber meine Handlung ihrem argwoͤhni- ſchen Hertzen ſcheinen konnte, ſo hatte ich doch kei- nen Gedancken dabey, der nicht aus Ehrfurcht ent- ſtand. Mein Hertz blieb ſo rein als das ihrige, ſo lange ſie bey mir war: denn ich bewilligte, daß ſie von mir und auf ihre Stube ginge, unter der Bedingung, daß ſie die Saͤnfte wegſchicken, und bald zu mir kommen wollte. Sie hielt ihr Wort nicht. Jch wartete eine halbe Stunde, ehe ich ſie erinnern ließ. Die Ant- wort war: es ſey ihr noch nicht moͤglich mich zu ſprechen. Sie wollte aber kommen, ſo bald ſie koͤnnte. Dorcas ſagte, ſie zittere noch, und haͤtte kaltes Waſſer und Hirſchhorn gefodert. Ein wunderbares und argwoͤhniſches Kind! Jhr Schrecken iſt groͤßer, als es dieſesmal nothig iſt. Ein gefuͤrchtetes Uebel iſt oft groͤßer, als ein wirck-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/238
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/238>, abgerufen am 23.11.2024.