Wahrhaftig Bruder, wenn ich bisweilen gegen ihr über sitze, und sie angaffe, und mir die gantze Seele in die Augen fährt; wenn ich sie heiter und vergnügt sehe, und dabey gedencke, wie verstöret sie aussehen würde, wenn sie mein Hertz so gut ken- nete als ich; wenn mir bey ihren ängstlichen und unruhigen Blicken beyfällt, wie gegründet ihre Furcht ist, und daß sie sich gewiß nicht so sehr fürch- ten kann, als sie Ursache hat sich zu fürchten: so wird meinem eigenen Hertzen nicht wohl bey der Sache zu Muthe. Jch dencke oft: soll ein so göttlich-schönes Kind diese Arme, die einen König glücklich machen könnten, gebrauchen, sich einer viehischen Gewaltthätigkeit zu erwehren? soll viel- leicht alle ihre Stärcke vergeblich angewandt wer- den, den Leib zu vertheidigen, der so zärtlich gebildet ist? kann es dem ärgsten Bösewicht in den Sinn kommen, Gewalt zu gebrauchen, da er ohne Gewalt ihre freywillige und tugendhafte Liebe erhalten, und das Vergnügen, das er jetzt rauben will, in ihre Pflicht und Schuldigkeit verwandeln könnte? Weg! ihr abscheulichen Gedancken! fahrt alle zu der Hölle, aus der ihr gekommen seyd! Jch will mich ihr zu Füßen werfen, meine boshaften Anschläge be- kennen, ihr Besserung zusagen, und es mir un- möglich machen, ein so unvergleichliches Heilig- thum zu entweyhen.
Allein wie gehet es zu, deß alle diese mitlei- digen oder (wie sie andere nennen werden) tugend- haften Triebe wieder verschwinden? Wie gehet das zu? Die Fräulein Howe wird es dir sagen.
Sie
Wahrhaftig Bruder, wenn ich bisweilen gegen ihr uͤber ſitze, und ſie angaffe, und mir die gantze Seele in die Augen faͤhrt; wenn ich ſie heiter und vergnuͤgt ſehe, und dabey gedencke, wie verſtoͤret ſie ausſehen wuͤrde, wenn ſie mein Hertz ſo gut ken- nete als ich; wenn mir bey ihren aͤngſtlichen und unruhigen Blicken beyfaͤllt, wie gegruͤndet ihre Furcht iſt, und daß ſie ſich gewiß nicht ſo ſehr fuͤrch- ten kann, als ſie Urſache hat ſich zu fuͤrchten: ſo wird meinem eigenen Hertzen nicht wohl bey der Sache zu Muthe. Jch dencke oft: ſoll ein ſo goͤttlich-ſchoͤnes Kind dieſe Arme, die einen Koͤnig gluͤcklich machen koͤnnten, gebrauchen, ſich einer viehiſchen Gewaltthaͤtigkeit zu erwehren? ſoll viel- leicht alle ihre Staͤrcke vergeblich angewandt wer- den, den Leib zu vertheidigen, der ſo zaͤrtlich gebildet iſt? kann es dem aͤrgſten Boͤſewicht in den Sinn kommen, Gewalt zu gebrauchen, da er ohne Gewalt ihre freywillige und tugendhafte Liebe erhalten, und das Vergnuͤgen, das er jetzt rauben will, in ihre Pflicht und Schuldigkeit verwandeln koͤnnte? Weg! ihr abſcheulichen Gedancken! fahrt alle zu der Hoͤlle, aus der ihr gekommen ſeyd! Jch will mich ihr zu Fuͤßen werfen, meine boshaften Anſchlaͤge be- kennen, ihr Beſſerung zuſagen, und es mir un- moͤglich machen, ein ſo unvergleichliches Heilig- thum zu entweyhen.
Allein wie gehet es zu, deß alle dieſe mitlei- digen oder (wie ſie andere nennen werden) tugend- haften Triebe wieder verſchwinden? Wie gehet das zu? Die Fraͤulein Howe wird es dir ſagen.
Sie
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Wahrhaftig Bruder, wenn ich bisweilen gegen
ihr uͤber ſitze, und ſie angaffe, und mir die gantze
Seele in die Augen faͤhrt; wenn ich ſie heiter und
vergnuͤgt ſehe, und dabey gedencke, wie verſtoͤret
ſie ausſehen wuͤrde, wenn ſie mein Hertz ſo gut ken-
nete als ich; wenn mir bey ihren aͤngſtlichen und
unruhigen Blicken beyfaͤllt, wie gegruͤndet ihre
Furcht iſt, und daß ſie ſich gewiß nicht ſo ſehr fuͤrch-
ten kann, als ſie Urſache hat ſich zu fuͤrchten: ſo
wird meinem eigenen Hertzen nicht wohl bey der
Sache zu Muthe. Jch dencke oft: ſoll ein ſo
goͤttlich-ſchoͤnes Kind dieſe Arme, die einen Koͤnig
gluͤcklich machen koͤnnten, gebrauchen, ſich einer
viehiſchen Gewaltthaͤtigkeit zu erwehren? ſoll viel-
leicht alle ihre Staͤrcke vergeblich angewandt wer-
den, den Leib zu vertheidigen, der ſo zaͤrtlich gebildet
iſt? kann es dem aͤrgſten Boͤſewicht in den Sinn
kommen, Gewalt zu gebrauchen, da er ohne Gewalt
ihre freywillige und tugendhafte Liebe erhalten, und
das Vergnuͤgen, das er jetzt rauben will, in ihre
Pflicht und Schuldigkeit verwandeln koͤnnte?
Weg! ihr abſcheulichen Gedancken! fahrt alle zu der
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ihr zu Fuͤßen werfen, meine boshaften Anſchlaͤge be-
kennen, ihr Beſſerung zuſagen, und es mir un-
moͤglich machen, ein ſo unvergleichliches Heilig-
thum zu entweyhen.
Allein wie gehet es zu, deß alle dieſe mitlei-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/272>, abgerufen am 24.11.2024.
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