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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

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Er weiß, was er zu erwarten hat und womit er
sich befriedigen lassen muß.

Hierzu kommt, daß in einigen Fällen der
Vorzug, den die Weibsleute haben, Unwissen-
heit
seyn muß: es mag nun eine wirkliche oder
angenommene Unwissenheit seyn. Die Manns-
person muß sich in diesen Fällen als einen
Kunsterfahrnen beweisen. Wird man sich
denn darüber wundern, daß ein Frauenzimmer
elnen liederlichen Bruder einem Lehrlinge vorzie-
het? - - Da sie von dem einen die Dreistigkeit
erwartet, die ihr fehlet: so sieht sie hingegen den
andern und sich selbst als zwo Parallel-Linien an,
die, wenn sie auch in Ewigkeit neben einander
fortlaufen, doch nimmermehr zusammen kom-
men.

Jnzwischen betrüget sich das schöne Geschlecht
überhaupt auch eben in diesem Stücke. Denn
solche schüchterne Brüder sind schlau - - Jch
bin vordem selbst blöde gewesen: und dieß hat
mich besser in den Stand gesetzet von beyden Ge-
schlechtern zu urtheilen; wie ich dir schon bey an-
derer Gelegenheit zu verstehen gegeben habe (*).
- Allein ich muß in meiner Erzählung wieder
fortfahren.

Nachdem ich also alle gegen einen jeden
Brief, der von der Fräulein Howe kommen
möchte, und gegen die Antwort durch den Boten
meiner Geliebten zum voraus eingenommen hat-
te: so hielte ich es für dienlich, dieses Stück un-

serer
(*) Siehe den III. Th. S. 208.



Er weiß, was er zu erwarten hat und womit er
ſich befriedigen laſſen muß.

Hierzu kommt, daß in einigen Faͤllen der
Vorzug, den die Weibsleute haben, Unwiſſen-
heit
ſeyn muß: es mag nun eine wirkliche oder
angenommene Unwiſſenheit ſeyn. Die Manns-
perſon muß ſich in dieſen Faͤllen als einen
Kunſterfahrnen beweiſen. Wird man ſich
denn daruͤber wundern, daß ein Frauenzimmer
elnen liederlichen Bruder einem Lehrlinge vorzie-
het? ‒ ‒ Da ſie von dem einen die Dreiſtigkeit
erwartet, die ihr fehlet: ſo ſieht ſie hingegen den
andern und ſich ſelbſt als zwo Parallel-Linien an,
die, wenn ſie auch in Ewigkeit neben einander
fortlaufen, doch nimmermehr zuſammen kom-
men.

Jnzwiſchen betruͤget ſich das ſchoͤne Geſchlecht
uͤberhaupt auch eben in dieſem Stuͤcke. Denn
ſolche ſchuͤchterne Bruͤder ſind ſchlau ‒ ‒ Jch
bin vordem ſelbſt bloͤde geweſen: und dieß hat
mich beſſer in den Stand geſetzet von beyden Ge-
ſchlechtern zu urtheilen; wie ich dir ſchon bey an-
derer Gelegenheit zu verſtehen gegeben habe (*).
‒ Allein ich muß in meiner Erzaͤhlung wieder
fortfahren.

Nachdem ich alſo alle gegen einen jeden
Brief, der von der Fraͤulein Howe kommen
moͤchte, und gegen die Antwort durch den Boten
meiner Geliebten zum voraus eingenommen hat-
te: ſo hielte ich es fuͤr dienlich, dieſes Stuͤck un-

ſerer
(*) Siehe den III. Th. S. 208.
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[328/0334] Er weiß, was er zu erwarten hat und womit er ſich befriedigen laſſen muß. Hierzu kommt, daß in einigen Faͤllen der Vorzug, den die Weibsleute haben, Unwiſſen- heit ſeyn muß: es mag nun eine wirkliche oder angenommene Unwiſſenheit ſeyn. Die Manns- perſon muß ſich in dieſen Faͤllen als einen Kunſterfahrnen beweiſen. Wird man ſich denn daruͤber wundern, daß ein Frauenzimmer elnen liederlichen Bruder einem Lehrlinge vorzie- het? ‒ ‒ Da ſie von dem einen die Dreiſtigkeit erwartet, die ihr fehlet: ſo ſieht ſie hingegen den andern und ſich ſelbſt als zwo Parallel-Linien an, die, wenn ſie auch in Ewigkeit neben einander fortlaufen, doch nimmermehr zuſammen kom- men. Jnzwiſchen betruͤget ſich das ſchoͤne Geſchlecht uͤberhaupt auch eben in dieſem Stuͤcke. Denn ſolche ſchuͤchterne Bruͤder ſind ſchlau ‒ ‒ Jch bin vordem ſelbſt bloͤde geweſen: und dieß hat mich beſſer in den Stand geſetzet von beyden Ge- ſchlechtern zu urtheilen; wie ich dir ſchon bey an- derer Gelegenheit zu verſtehen gegeben habe (*). ‒ Allein ich muß in meiner Erzaͤhlung wieder fortfahren. Nachdem ich alſo alle gegen einen jeden Brief, der von der Fraͤulein Howe kommen moͤchte, und gegen die Antwort durch den Boten meiner Geliebten zum voraus eingenommen hat- te: ſo hielte ich es fuͤr dienlich, dieſes Stuͤck un- ſerer (*) Siehe den III. Th. S. 208.

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/334>, abgerufen am 24.11.2024.