Bruder, sollten niemals schreiben, so lange ihre Hitze dauret.
Lov. Die Härte, gnädige Fräulein, welche sie mir entweder schriftlich oder mündlich bewie- sen haben, soll niemals anders, als für ihre Eh- re, in meinem Angedenken seyn. So wie sie die Sachen angesehen haben, ist alles verschuldet, und bloß eine natürliche Folge von einer tugend- haften Empfindlichkeit. Jch verehre sie als an- betenswürdig, selbst um der Schmerzen willen, die sie mir verursachet haben.
Sie schwieg stille. Sie hatte mit ihrem Schnupftuche an den Augen genug zu thun.
Lovel. Sie klagen bisweilen, daß sie keine Freundinnen haben, mit denen sie zu Rathe ge- hen können Jungfer Rawlins, muß ich geste- hen, ist zu neubegierig, daß man ihr etwas ver- trauen könnte. - Es gefiel mir nicht, wie du leicht denken kannst, daß sie sich vorher auf den Ausspruch der Jungfer Rawlins berufen hatte - - Sie mag es vielleicht gut meynen. Aber ich habe doch in meinem Leben keine Person gekannt, die so begierig gewesen in anderer Leute Geheimnisse zu schauen, auf welche man sich hät- te verlassen können. Die Neubegierde solcher Leute wird von einem Ehrgeize regieret, der sich nicht anders befriedigen läßt, als wenn sie das Geheimniß so lange durch Ohrenblasen herum- tragen, bis es öffentlich bekannt wird, damit sie entweder ihr wichtiges Ansehen bey andern oder ihre Scharfsinnigkeit zeigen. So ist es in allen
Fällen.
E e 5
Bruder, ſollten niemals ſchreiben, ſo lange ihre Hitze dauret.
Lov. Die Haͤrte, gnaͤdige Fraͤulein, welche ſie mir entweder ſchriftlich oder muͤndlich bewie- ſen haben, ſoll niemals anders, als fuͤr ihre Eh- re, in meinem Angedenken ſeyn. So wie ſie die Sachen angeſehen haben, iſt alles verſchuldet, und bloß eine natuͤrliche Folge von einer tugend- haften Empfindlichkeit. Jch verehre ſie als an- betenswuͤrdig, ſelbſt um der Schmerzen willen, die ſie mir verurſachet haben.
Sie ſchwieg ſtille. Sie hatte mit ihrem Schnupftuche an den Augen genug zu thun.
Lovel. Sie klagen bisweilen, daß ſie keine Freundinnen haben, mit denen ſie zu Rathe ge- hen koͤnnen Jungfer Rawlins, muß ich geſte- hen, iſt zu neubegierig, daß man ihr etwas ver- trauen koͤnnte. ‒ Es gefiel mir nicht, wie du leicht denken kannſt, daß ſie ſich vorher auf den Ausſpruch der Jungfer Rawlins berufen hatte ‒ ‒ Sie mag es vielleicht gut meynen. Aber ich habe doch in meinem Leben keine Perſon gekannt, die ſo begierig geweſen in anderer Leute Geheimniſſe zu ſchauen, auf welche man ſich haͤt- te verlaſſen koͤnnen. Die Neubegierde ſolcher Leute wird von einem Ehrgeize regieret, der ſich nicht anders befriedigen laͤßt, als wenn ſie das Geheimniß ſo lange durch Ohrenblaſen herum- tragen, bis es oͤffentlich bekannt wird, damit ſie entweder ihr wichtiges Anſehen bey andern oder ihre Scharfſinnigkeit zeigen. So iſt es in allen
Faͤllen.
E e 5
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0447"n="441"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><hirendition="#fr">Bruder, ſollten niemals ſchreiben, ſo lange<lb/>
ihre Hitze dauret.</hi></p><lb/><p><hirendition="#fr">Lov.</hi> Die Haͤrte, gnaͤdige Fraͤulein, welche<lb/>ſie mir entweder ſchriftlich oder muͤndlich bewie-<lb/>ſen haben, ſoll niemals anders, als fuͤr <hirendition="#fr">ihre Eh-<lb/>
re,</hi> in meinem Angedenken ſeyn. So wie ſie<lb/>
die Sachen angeſehen haben, iſt alles verſchuldet,<lb/>
und bloß eine natuͤrliche Folge von einer tugend-<lb/>
haften Empfindlichkeit. Jch verehre ſie als an-<lb/>
betenswuͤrdig, ſelbſt um der Schmerzen willen,<lb/>
die ſie mir verurſachet haben.</p><lb/><p>Sie ſchwieg ſtille. Sie hatte mit ihrem<lb/>
Schnupftuche an den Augen genug zu thun.</p><lb/><p><hirendition="#fr">Lovel.</hi> Sie klagen bisweilen, daß ſie keine<lb/>
Freundinnen haben, mit denen ſie zu Rathe ge-<lb/>
hen koͤnnen Jungfer Rawlins, muß ich geſte-<lb/>
hen, iſt zu neubegierig, daß man ihr etwas ver-<lb/>
trauen koͤnnte. ‒ Es gefiel mir nicht, wie du<lb/>
leicht denken kannſt, daß ſie ſich vorher auf den<lb/>
Ausſpruch der Jungfer Rawlins berufen hatte<lb/>‒‒ Sie <hirendition="#fr">mag</hi> es <hirendition="#fr">vielleicht</hi> gut meynen. Aber<lb/>
ich habe doch in meinem Leben keine Perſon<lb/>
gekannt, die ſo begierig geweſen in anderer Leute<lb/>
Geheimniſſe zu ſchauen, auf welche man ſich haͤt-<lb/>
te verlaſſen koͤnnen. Die Neubegierde ſolcher<lb/>
Leute wird von einem Ehrgeize regieret, der ſich<lb/>
nicht anders befriedigen laͤßt, als wenn ſie das<lb/>
Geheimniß ſo lange durch Ohrenblaſen herum-<lb/>
tragen, bis es oͤffentlich bekannt wird, damit ſie<lb/>
entweder ihr wichtiges Anſehen bey andern oder<lb/>
ihre Scharfſinnigkeit zeigen. So iſt es in allen<lb/><fwplace="bottom"type="sig">E e 5</fw><fwplace="bottom"type="catch">Faͤllen.</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[441/0447]
Bruder, ſollten niemals ſchreiben, ſo lange
ihre Hitze dauret.
Lov. Die Haͤrte, gnaͤdige Fraͤulein, welche
ſie mir entweder ſchriftlich oder muͤndlich bewie-
ſen haben, ſoll niemals anders, als fuͤr ihre Eh-
re, in meinem Angedenken ſeyn. So wie ſie
die Sachen angeſehen haben, iſt alles verſchuldet,
und bloß eine natuͤrliche Folge von einer tugend-
haften Empfindlichkeit. Jch verehre ſie als an-
betenswuͤrdig, ſelbſt um der Schmerzen willen,
die ſie mir verurſachet haben.
Sie ſchwieg ſtille. Sie hatte mit ihrem
Schnupftuche an den Augen genug zu thun.
Lovel. Sie klagen bisweilen, daß ſie keine
Freundinnen haben, mit denen ſie zu Rathe ge-
hen koͤnnen Jungfer Rawlins, muß ich geſte-
hen, iſt zu neubegierig, daß man ihr etwas ver-
trauen koͤnnte. ‒ Es gefiel mir nicht, wie du
leicht denken kannſt, daß ſie ſich vorher auf den
Ausſpruch der Jungfer Rawlins berufen hatte
‒ ‒ Sie mag es vielleicht gut meynen. Aber
ich habe doch in meinem Leben keine Perſon
gekannt, die ſo begierig geweſen in anderer Leute
Geheimniſſe zu ſchauen, auf welche man ſich haͤt-
te verlaſſen koͤnnen. Die Neubegierde ſolcher
Leute wird von einem Ehrgeize regieret, der ſich
nicht anders befriedigen laͤßt, als wenn ſie das
Geheimniß ſo lange durch Ohrenblaſen herum-
tragen, bis es oͤffentlich bekannt wird, damit ſie
entweder ihr wichtiges Anſehen bey andern oder
ihre Scharfſinnigkeit zeigen. So iſt es in allen
Faͤllen.
E e 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/447>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.