Sie bat mich, alle Gedanken von ihr aufzu- geben. Bisweilen, sprach sie, dächte sie, daß ih- re nähesten und liebsten Verwandten grausam mit ihr umgegangen wären. Bey solchen Stun- den nehme ein heftiges Misvergnügen und wohl gar Unwillen Platz. Die Aussöhnung, welche ihr zu andern Zeiten so sehr am Herzen läge, wäre alsdenn nicht so sehr ihr liebster Wunsch, als es der Anschlag wäre, den sie vorher gefasset hätte - - ihre gute Frau Norton zu ihrer An- führerinn und Wegweiserinn zu nehmen, und auf ihrem eignen Gute so, wie es ihres Großvaters Absicht gewesen, zu leben.
Sie zweifelte nicht, daß ihr Vetter Morden, als einer von denen, welchen die Vollziehung des Testaments in Ansehung dieses Gutes aufgetra- gen wäre, sie in den Stand setzen würde, und zwar, wie sie hoffete, ohne Proceß, diesen Anschlag auszuführen. Wenn er aber das kann und thut, fuhr sie fort: was habe ich in ihrer Aufführung gesehen, daß ich bewogen werden sollte, eine Ver- einigung der äußerlichen Vortheile, wobey eine solche Uneinigkeit der Gemüther ist, demselben vorzuziehen?
So siehst du, Bruder, daß so wohl Vernunft als Unwillen ihre gegen mich getroffene Wahl begleitet. Du siehest, daß sie in den Gedanken stehet, sie könne ohne mich glücklich, und müsse mit mir unglücklich seyn.
Jch hatte sie, bey dem Beschlusse meiner nachdrücklich wiederholten Gründe, ersuchet, noch
eher
Sie bat mich, alle Gedanken von ihr aufzu- geben. Bisweilen, ſprach ſie, daͤchte ſie, daß ih- re naͤheſten und liebſten Verwandten grauſam mit ihr umgegangen waͤren. Bey ſolchen Stun- den nehme ein heftiges Misvergnuͤgen und wohl gar Unwillen Platz. Die Ausſoͤhnung, welche ihr zu andern Zeiten ſo ſehr am Herzen laͤge, waͤre alsdenn nicht ſo ſehr ihr liebſter Wunſch, als es der Anſchlag waͤre, den ſie vorher gefaſſet haͤtte ‒ ‒ ihre gute Frau Norton zu ihrer An- fuͤhrerinn und Wegweiſerinn zu nehmen, und auf ihrem eignen Gute ſo, wie es ihres Großvaters Abſicht geweſen, zu leben.
Sie zweifelte nicht, daß ihr Vetter Morden, als einer von denen, welchen die Vollziehung des Teſtaments in Anſehung dieſes Gutes aufgetra- gen waͤre, ſie in den Stand ſetzen wuͤrde, und zwar, wie ſie hoffete, ohne Proceß, dieſen Anſchlag auszufuͤhren. Wenn er aber das kann und thut, fuhr ſie fort: was habe ich in ihrer Auffuͤhrung geſehen, daß ich bewogen werden ſollte, eine Ver- einigung der aͤußerlichen Vortheile, wobey eine ſolche Uneinigkeit der Gemuͤther iſt, demſelben vorzuziehen?
So ſiehſt du, Bruder, daß ſo wohl Vernunft als Unwillen ihre gegen mich getroffene Wahl begleitet. Du ſieheſt, daß ſie in den Gedanken ſtehet, ſie koͤnne ohne mich gluͤcklich, und muͤſſe mit mir ungluͤcklich ſeyn.
Jch hatte ſie, bey dem Beſchluſſe meiner nachdruͤcklich wiederholten Gruͤnde, erſuchet, noch
eher
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Sie bat mich, alle Gedanken von ihr aufzu-
geben. Bisweilen, ſprach ſie, daͤchte ſie, daß ih-
re naͤheſten und liebſten Verwandten grauſam
mit ihr umgegangen waͤren. Bey ſolchen Stun-
den nehme ein heftiges Misvergnuͤgen und wohl
gar Unwillen Platz. Die Ausſoͤhnung, welche
ihr zu andern Zeiten ſo ſehr am Herzen laͤge,
waͤre alsdenn nicht ſo ſehr ihr liebſter Wunſch,
als es der Anſchlag waͤre, den ſie vorher gefaſſet
haͤtte ‒ ‒ ihre gute Frau Norton zu ihrer An-
fuͤhrerinn und Wegweiſerinn zu nehmen, und auf
ihrem eignen Gute ſo, wie es ihres Großvaters
Abſicht geweſen, zu leben.
Sie zweifelte nicht, daß ihr Vetter Morden,
als einer von denen, welchen die Vollziehung des
Teſtaments in Anſehung dieſes Gutes aufgetra-
gen waͤre, ſie in den Stand ſetzen wuͤrde, und
zwar, wie ſie hoffete, ohne Proceß, dieſen Anſchlag
auszufuͤhren. Wenn er aber das kann und thut,
fuhr ſie fort: was habe ich in ihrer Auffuͤhrung
geſehen, daß ich bewogen werden ſollte, eine Ver-
einigung der aͤußerlichen Vortheile, wobey eine
ſolche Uneinigkeit der Gemuͤther iſt, demſelben
vorzuziehen?
So ſiehſt du, Bruder, daß ſo wohl Vernunft
als Unwillen ihre gegen mich getroffene Wahl
begleitet. Du ſieheſt, daß ſie in den Gedanken
ſtehet, ſie koͤnne ohne mich gluͤcklich, und muͤſſe
mit mir ungluͤcklich ſeyn.
Jch hatte ſie, bey dem Beſchluſſe meiner
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 491. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/497>, abgerufen am 24.11.2024.
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