Leute nicht ärger, als ich bin? - Was müssen diese für eine Meynung von dem ganzen schönen Geschlechte hegen?
Erlaube mir, daß ich dieß Geschlecht, welches ich so herzlich liebe, auch vertheidige. Wenn diese von unsern ältern Brüdern für ihre Mey- nung überhaupt und ohne Ausnahme Grund zu haben glauben: so müssen sie in sehr böse Gesell- schaft gerathen seyn oder von dem Herzen der Frauenzimmer nach ihrem eignen urtheilen. Es muß schon eine recht lüderliche Weibsperson seyn, die sich bey einem groben und plötzlichen Versuche auf ihre Keuschheit nicht, wie eine Schnecke in ihr Haus, zurückziehen soll. Ein bescheidnes Frauenzimmer muß natürlicherweise kaltsinnig, fremd, und schüchtern seyn. Es kann nicht so sehr und so bald gerühret werden, als Leute von freyer Lebensart sich einzubilden im Stande sind. Es muß wenigstens einiges Vertrauen auf die Ehre und Verschwiegenheit einer Mannsperson haben, ehe es möglich ist, daß in demselben ein Verlangen Platz finde, die Flamme dieser Person zu reizen und zu vergnügen. Meines Theils bin ich allezeit in Gesellschaft von Frauenzimmern bey den Regeln des Wohlstandes geblieben, bis ich mich ihrer versichert hatte. Jch habe auch nie- mals einen größern Anstoß zu geben gewaget, als bis ich gefunden, daß sie die kleinern überse- hen, und, wenn sie meine Lebens- und Gemüths- art gewußt, mich nicht zu vermeiden gesucht.
Meine
D 2
Leute nicht aͤrger, als ich bin? ‒ Was muͤſſen dieſe fuͤr eine Meynung von dem ganzen ſchoͤnen Geſchlechte hegen?
Erlaube mir, daß ich dieß Geſchlecht, welches ich ſo herzlich liebe, auch vertheidige. Wenn dieſe von unſern aͤltern Bruͤdern fuͤr ihre Mey- nung uͤberhaupt und ohne Ausnahme Grund zu haben glauben: ſo muͤſſen ſie in ſehr boͤſe Geſell- ſchaft gerathen ſeyn oder von dem Herzen der Frauenzimmer nach ihrem eignen urtheilen. Es muß ſchon eine recht luͤderliche Weibsperſon ſeyn, die ſich bey einem groben und ploͤtzlichen Verſuche auf ihre Keuſchheit nicht, wie eine Schnecke in ihr Haus, zuruͤckziehen ſoll. Ein beſcheidnes Frauenzimmer muß natuͤrlicherweiſe kaltſinnig, fremd, und ſchuͤchtern ſeyn. Es kann nicht ſo ſehr und ſo bald geruͤhret werden, als Leute von freyer Lebensart ſich einzubilden im Stande ſind. Es muß wenigſtens einiges Vertrauen auf die Ehre und Verſchwiegenheit einer Mannsperſon haben, ehe es moͤglich iſt, daß in demſelben ein Verlangen Platz finde, die Flamme dieſer Perſon zu reizen und zu vergnuͤgen. Meines Theils bin ich allezeit in Geſellſchaft von Frauenzimmern bey den Regeln des Wohlſtandes geblieben, bis ich mich ihrer verſichert hatte. Jch habe auch nie- mals einen groͤßern Anſtoß zu geben gewaget, als bis ich gefunden, daß ſie die kleinern uͤberſe- hen, und, wenn ſie meine Lebens- und Gemuͤths- art gewußt, mich nicht zu vermeiden geſucht.
Meine
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Leute nicht aͤrger, als ich bin? ‒ Was muͤſſen
dieſe fuͤr eine Meynung von dem ganzen ſchoͤnen
Geſchlechte hegen?
Erlaube mir, daß ich dieß Geſchlecht, welches
ich ſo herzlich liebe, auch vertheidige. Wenn
dieſe von unſern aͤltern Bruͤdern fuͤr ihre Mey-
nung uͤberhaupt und ohne Ausnahme Grund zu
haben glauben: ſo muͤſſen ſie in ſehr boͤſe Geſell-
ſchaft gerathen ſeyn oder von dem Herzen der
Frauenzimmer nach ihrem eignen urtheilen. Es
muß ſchon eine recht luͤderliche Weibsperſon ſeyn,
die ſich bey einem groben und ploͤtzlichen Verſuche
auf ihre Keuſchheit nicht, wie eine Schnecke in
ihr Haus, zuruͤckziehen ſoll. Ein beſcheidnes
Frauenzimmer muß natuͤrlicherweiſe kaltſinnig,
fremd, und ſchuͤchtern ſeyn. Es kann nicht ſo
ſehr und ſo bald geruͤhret werden, als Leute von
freyer Lebensart ſich einzubilden im Stande ſind.
Es muß wenigſtens einiges Vertrauen auf die
Ehre und Verſchwiegenheit einer Mannsperſon
haben, ehe es moͤglich iſt, daß in demſelben ein
Verlangen Platz finde, die Flamme dieſer Perſon
zu reizen und zu vergnuͤgen. Meines Theils bin
ich allezeit in Geſellſchaft von Frauenzimmern
bey den Regeln des Wohlſtandes geblieben, bis ich
mich ihrer verſichert hatte. Jch habe auch nie-
mals einen groͤßern Anſtoß zu geben gewaget,
als bis ich gefunden, daß ſie die kleinern uͤberſe-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/57>, abgerufen am 23.11.2024.
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