Hier hielte sie inne, seufzete, wandte ihr ange- nehmes Gesicht von mir und wischte mit ihrem Schnupftuche die Thränen ab, die sie zurückzu- halten, und da sie das nicht konnte, vor mir zu verbergen suchte.
Jch hatte mich, wie ich dir gesagt habe, auf heftige Leidenschaften, unsinniges Toben, Fliehen, Reißen, Fluchen gefaßt gemacht. Dergleichen heftige und vorübergehende Bewegungen, als Wirkungen von plötzlicher Traurigkeit und Schaam und Rachbegierde, würden uns auf ei- nen gleichen Fuß mit einander gesetzet, und die Rechnungen abgethan haben. Zu diesen bin ich schon gewohnt: und da nichts, was heftig ist, lange dauret, hätte ich wünschen mögen, sie zu finden. Allein da sie in einer so erhabenen Ge- müthsverfassung stand - - Da sie mich suchte, den sie doch, wie aus ihrem Versuche davon zu gehen erhellet, gerne nicht gesehen hätte - - da sie an keine Rache über sich selbst, wie eine Lucre- tia, gedachte - - und gleichwohl in einem so schweren Kummer, der nach ihrem eignen Wor- ten viel zu groß war, sich durch Worte ausdrü- cken zu lassen, völlig, ja mit ihren ganzen Ge- müthe, so zu sagen, versunken lag - - Da sie im Stande war; so wenig sie auch bis diesen Morgen selbst ihrer mächtig gewesen; mir eine solche eintreibende Frage vorzulegen, als wenn sie meine künftigen Absichten vollkommen errathen hätte: - - - wie konnte es denn anders seyn, als daß ich wie ein Narr aussehen, und so, wie
vorher,
Hier hielte ſie inne, ſeufzete, wandte ihr ange- nehmes Geſicht von mir und wiſchte mit ihrem Schnupftuche die Thraͤnen ab, die ſie zuruͤckzu- halten, und da ſie das nicht konnte, vor mir zu verbergen ſuchte.
Jch hatte mich, wie ich dir geſagt habe, auf heftige Leidenſchaften, unſinniges Toben, Fliehen, Reißen, Fluchen gefaßt gemacht. Dergleichen heftige und voruͤbergehende Bewegungen, als Wirkungen von ploͤtzlicher Traurigkeit und Schaam und Rachbegierde, wuͤrden uns auf ei- nen gleichen Fuß mit einander geſetzet, und die Rechnungen abgethan haben. Zu dieſen bin ich ſchon gewohnt: und da nichts, was heftig iſt, lange dauret, haͤtte ich wuͤnſchen moͤgen, ſie zu finden. Allein da ſie in einer ſo erhabenen Ge- muͤthsverfaſſung ſtand ‒ ‒ Da ſie mich ſuchte, den ſie doch, wie aus ihrem Verſuche davon zu gehen erhellet, gerne nicht geſehen haͤtte ‒ ‒ da ſie an keine Rache uͤber ſich ſelbſt, wie eine Lucre- tia, gedachte ‒ ‒ und gleichwohl in einem ſo ſchweren Kummer, der nach ihrem eignen Wor- ten viel zu groß war, ſich durch Worte ausdruͤ- cken zu laſſen, voͤllig, ja mit ihren ganzen Ge- muͤthe, ſo zu ſagen, verſunken lag ‒ ‒ Da ſie im Stande war; ſo wenig ſie auch bis dieſen Morgen ſelbſt ihrer maͤchtig geweſen; mir eine ſolche eintreibende Frage vorzulegen, als wenn ſie meine kuͤnftigen Abſichten vollkommen errathen haͤtte: ‒ ‒ ‒ wie konnte es denn anders ſeyn, als daß ich wie ein Narr ausſehen, und ſo, wie
vorher,
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Hier hielte ſie inne, ſeufzete, wandte ihr ange-
nehmes Geſicht von mir und wiſchte mit ihrem
Schnupftuche die Thraͤnen ab, die ſie zuruͤckzu-
halten, und da ſie das nicht konnte, vor mir zu
verbergen ſuchte.
Jch hatte mich, wie ich dir geſagt habe, auf
heftige Leidenſchaften, unſinniges Toben, Fliehen,
Reißen, Fluchen gefaßt gemacht. Dergleichen
heftige und voruͤbergehende Bewegungen, als
Wirkungen von ploͤtzlicher Traurigkeit und
Schaam und Rachbegierde, wuͤrden uns auf ei-
nen gleichen Fuß mit einander geſetzet, und die
Rechnungen abgethan haben. Zu dieſen bin ich
ſchon gewohnt: und da nichts, was heftig iſt,
lange dauret, haͤtte ich wuͤnſchen moͤgen, ſie zu
finden. Allein da ſie in einer ſo erhabenen Ge-
muͤthsverfaſſung ſtand ‒ ‒ Da ſie mich ſuchte,
den ſie doch, wie aus ihrem Verſuche davon zu
gehen erhellet, gerne nicht geſehen haͤtte ‒ ‒ da
ſie an keine Rache uͤber ſich ſelbſt, wie eine Lucre-
tia, gedachte ‒ ‒ und gleichwohl in einem ſo
ſchweren Kummer, der nach ihrem eignen Wor-
ten viel zu groß war, ſich durch Worte ausdruͤ-
cken zu laſſen, voͤllig, ja mit ihren ganzen Ge-
muͤthe, ſo zu ſagen, verſunken lag ‒ ‒ Da ſie
im Stande war; ſo wenig ſie auch bis dieſen
Morgen ſelbſt ihrer maͤchtig geweſen; mir eine
ſolche eintreibende Frage vorzulegen, als wenn ſie
meine kuͤnftigen Abſichten vollkommen errathen
haͤtte: ‒ ‒ ‒ wie konnte es denn anders ſeyn,
als daß ich wie ein Narr ausſehen, und ſo, wie
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 650. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/656>, abgerufen am 24.11.2024.
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