Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite


Hierauf ging sie in den Speisesaal und sahe den
Brief von dem Capitain Tomlinson. Dabey be-
merket sie in ihrem Tagebuche folgendes.
"Wie bin ich nun verwirret! - - Er hat viel-
"leicht diesen Brief aus Vorsatz liegen lassen: da
"keine von den übrigen Papieren, die nebst demsel-
"ben zurückgelassen sind, etwas zu bedeuten haben - -
"Wie sieht es an beyden Seiten aus? - - Soll ich
"bleiben und von dem schändlichsten Kerl eine Frau
"werden? - - O wie sträubet sich mein Herz dage-
"gen! - - Soll ich versuchen davon zu kommen?
"Schlägt es fehl: so bin ich ganz gewiß verlohren!
"- - Dorcas kann mich vielleicht verrathen! - -
"Es kommt mir nicht anders vor, als wenn sie noch
"sein Werkzeug ist! - - Da er ausging: redete er
"ihr ins Ohr, wie ich unvermerkt sahe - - und noch
"dazu auf eine sehr vertraute Weise - - Fürchten
"sie sich vor nichts, mein Herr, antwortete sie und
"neigte sich dabey.
"Bey ihrer willfährigen Erklärung, meine
"Flucht geschehen zu lassen, ist sie nicht auf ihre eigne
"Sicherheit bedacht gewesen, wenn ich davon gegan-
"gen wäre. Gleichwohl hatte sie in dem Fall Ursa-
"che, Rache von ihm zu erwarten: und es fehlt ihr
"nicht an Ueberlegung - - Hätte ich sie mit mir ge-
"nommen: so wäre das eben so gut, als wenn ich
"mich ihrer Kundschaft überließe und verrathen seyn
"wollte, wo sie treulos ist - - Jch will inzwischen,
"ob ich gleich meine Behutsamkeit nicht fahren lasse,
"doch auch nach der Liebe urtheilen! - Kann eine
"Weibsperson gegen die andere wohl so schändlich
"handeln? - - O ja! - - Fr. Sinclair: ihre Tan-
"te - - - Gott errette mich! - - Aber ach! ich ha-
"be mich seinem Schutze durch die natürlichen Mit-
"tel schon selbst entzogen - - und bin bereits zu
"schanden gemacht! - - Eines Vaters Fluch ist
"gleichfalls wider mich! - - Da ich alle Warnun-
gen,
Fünfter Theil. A a a


Hierauf ging ſie in den Speiſeſaal und ſahe den
Brief von dem Capitain Tomlinſon. Dabey be-
merket ſie in ihrem Tagebuche folgendes.
„Wie bin ich nun verwirret! ‒ ‒ Er hat viel-
„leicht dieſen Brief aus Vorſatz liegen laſſen: da
„keine von den uͤbrigen Papieren, die nebſt demſel-
„ben zuruͤckgelaſſen ſind, etwas zu bedeuten haben ‒ ‒
„Wie ſieht es an beyden Seiten aus? ‒ ‒ Soll ich
„bleiben und von dem ſchaͤndlichſten Kerl eine Frau
„werden? ‒ ‒ O wie ſtraͤubet ſich mein Herz dage-
„gen! ‒ ‒ Soll ich verſuchen davon zu kommen?
„Schlaͤgt es fehl: ſo bin ich ganz gewiß verlohren!
„‒ ‒ Dorcas kann mich vielleicht verrathen! ‒ ‒
„Es kommt mir nicht anders vor, als wenn ſie noch
„ſein Werkzeug iſt! ‒ ‒ Da er ausging: redete er
„ihr ins Ohr, wie ich unvermerkt ſahe ‒ ‒ und noch
„dazu auf eine ſehr vertraute Weiſe ‒ ‒ Fuͤrchten
„ſie ſich vor nichts, mein Herr, antwortete ſie und
„neigte ſich dabey.
„Bey ihrer willfaͤhrigen Erklaͤrung, meine
„Flucht geſchehen zu laſſen, iſt ſie nicht auf ihre eigne
„Sicherheit bedacht geweſen, wenn ich davon gegan-
„gen waͤre. Gleichwohl hatte ſie in dem Fall Urſa-
„che, Rache von ihm zu erwarten: und es fehlt ihr
„nicht an Ueberlegung ‒ ‒ Haͤtte ich ſie mit mir ge-
„nommen: ſo waͤre das eben ſo gut, als wenn ich
„mich ihrer Kundſchaft uͤberließe und verrathen ſeyn
„wollte, wo ſie treulos iſt ‒ ‒ Jch will inzwiſchen,
„ob ich gleich meine Behutſamkeit nicht fahren laſſe,
„doch auch nach der Liebe urtheilen! ‒ Kann eine
„Weibsperſon gegen die andere wohl ſo ſchaͤndlich
„handeln? ‒ ‒ O ja! ‒ ‒ Fr. Sinclair: ihre Tan-
„te ‒ ‒ ‒ Gott errette mich! ‒ ‒ Aber ach! ich ha-
„be mich ſeinem Schutze durch die natuͤrlichen Mit-
„tel ſchon ſelbſt entzogen ‒ ‒ und bin bereits zu
„ſchanden gemacht! ‒ ‒ Eines Vaters Fluch iſt
„gleichfalls wider mich! ‒ ‒ Da ich alle Warnun-
gen,
Fuͤnfter Theil. A a a
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0743" n="737"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <note next="#a09" xml:id="a08" prev="#a07" place="foot" n="(*)">Hierauf ging &#x017F;ie in den Spei&#x017F;e&#x017F;aal und &#x017F;ahe den<lb/>
Brief von dem Capitain Tomlin&#x017F;on. Dabey be-<lb/>
merket &#x017F;ie in ihrem Tagebuche folgendes.<lb/>
&#x201E;Wie bin ich nun verwirret! &#x2012; &#x2012; Er hat viel-<lb/>
&#x201E;leicht die&#x017F;en Brief aus Vor&#x017F;atz liegen la&#x017F;&#x017F;en: da<lb/>
&#x201E;keine von den u&#x0364;brigen Papieren, die neb&#x017F;t dem&#x017F;el-<lb/>
&#x201E;ben zuru&#x0364;ckgela&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ind, etwas zu bedeuten haben &#x2012; &#x2012;<lb/>
&#x201E;Wie &#x017F;ieht es an beyden Seiten aus? &#x2012; &#x2012; Soll ich<lb/>
&#x201E;bleiben und von dem &#x017F;cha&#x0364;ndlich&#x017F;ten Kerl eine Frau<lb/>
&#x201E;werden? &#x2012; &#x2012; O wie &#x017F;tra&#x0364;ubet &#x017F;ich mein Herz dage-<lb/>
&#x201E;gen! &#x2012; &#x2012; Soll ich ver&#x017F;uchen davon zu kommen?<lb/>
&#x201E;Schla&#x0364;gt es fehl: &#x017F;o bin ich ganz gewiß verlohren!<lb/>
&#x201E;&#x2012; &#x2012; Dorcas <hi rendition="#fr">kann</hi> mich <hi rendition="#fr">vielleicht</hi> verrathen! &#x2012; &#x2012;<lb/>
&#x201E;Es kommt mir nicht anders vor, als wenn &#x017F;ie <hi rendition="#fr">noch</hi><lb/>
&#x201E;&#x017F;ein Werkzeug i&#x017F;t! &#x2012; &#x2012; Da er ausging: redete er<lb/>
&#x201E;ihr ins Ohr, wie ich unvermerkt &#x017F;ahe &#x2012; &#x2012; und noch<lb/>
&#x201E;dazu auf eine &#x017F;ehr vertraute Wei&#x017F;e &#x2012; &#x2012; Fu&#x0364;rchten<lb/>
&#x201E;&#x017F;ie &#x017F;ich vor nichts, mein Herr, antwortete &#x017F;ie und<lb/>
&#x201E;neigte &#x017F;ich dabey.<lb/>
&#x201E;Bey ihrer willfa&#x0364;hrigen Erkla&#x0364;rung, meine<lb/>
&#x201E;Flucht ge&#x017F;chehen zu la&#x017F;&#x017F;en, i&#x017F;t &#x017F;ie nicht auf ihre eigne<lb/>
&#x201E;Sicherheit bedacht gewe&#x017F;en, wenn ich davon gegan-<lb/>
&#x201E;gen wa&#x0364;re. Gleichwohl hatte &#x017F;ie in dem Fall Ur&#x017F;a-<lb/>
&#x201E;che, Rache von ihm zu erwarten: und es fehlt ihr<lb/>
&#x201E;nicht an Ueberlegung &#x2012; &#x2012; Ha&#x0364;tte ich &#x017F;ie <hi rendition="#fr">mit mir</hi> ge-<lb/>
&#x201E;nommen: &#x017F;o wa&#x0364;re das eben &#x017F;o gut, als wenn ich<lb/>
&#x201E;mich ihrer Kund&#x017F;chaft u&#x0364;berließe und verrathen &#x017F;eyn<lb/>
&#x201E;wollte, wo &#x017F;ie treulos i&#x017F;t &#x2012; &#x2012; Jch will inzwi&#x017F;chen,<lb/>
&#x201E;ob ich gleich meine Behut&#x017F;amkeit nicht fahren la&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
&#x201E;doch auch nach der Liebe urtheilen! &#x2012; Kann eine<lb/>
&#x201E;Weibsper&#x017F;on gegen die andere wohl &#x017F;o &#x017F;cha&#x0364;ndlich<lb/>
&#x201E;handeln? &#x2012; &#x2012; O ja! &#x2012; &#x2012; Fr. Sinclair: ihre Tan-<lb/>
&#x201E;te &#x2012; &#x2012; &#x2012; Gott errette mich! &#x2012; &#x2012; Aber ach! ich ha-<lb/>
&#x201E;be mich &#x017F;einem Schutze durch die <hi rendition="#fr">natu&#x0364;rlichen</hi> Mit-<lb/>
&#x201E;tel &#x017F;chon &#x017F;elb&#x017F;t entzogen &#x2012; &#x2012; und bin bereits zu<lb/>
&#x201E;&#x017F;chanden gemacht! &#x2012; &#x2012; Eines Vaters Fluch i&#x017F;t<lb/>
&#x201E;gleichfalls wider mich! &#x2012; &#x2012; Da ich alle Warnun-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Fu&#x0364;nfter Theil.</hi> A a a</fw><fw place="bottom" type="catch">gen,</fw></note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[737/0743] (*) (*) Hierauf ging ſie in den Speiſeſaal und ſahe den Brief von dem Capitain Tomlinſon. Dabey be- merket ſie in ihrem Tagebuche folgendes. „Wie bin ich nun verwirret! ‒ ‒ Er hat viel- „leicht dieſen Brief aus Vorſatz liegen laſſen: da „keine von den uͤbrigen Papieren, die nebſt demſel- „ben zuruͤckgelaſſen ſind, etwas zu bedeuten haben ‒ ‒ „Wie ſieht es an beyden Seiten aus? ‒ ‒ Soll ich „bleiben und von dem ſchaͤndlichſten Kerl eine Frau „werden? ‒ ‒ O wie ſtraͤubet ſich mein Herz dage- „gen! ‒ ‒ Soll ich verſuchen davon zu kommen? „Schlaͤgt es fehl: ſo bin ich ganz gewiß verlohren! „‒ ‒ Dorcas kann mich vielleicht verrathen! ‒ ‒ „Es kommt mir nicht anders vor, als wenn ſie noch „ſein Werkzeug iſt! ‒ ‒ Da er ausging: redete er „ihr ins Ohr, wie ich unvermerkt ſahe ‒ ‒ und noch „dazu auf eine ſehr vertraute Weiſe ‒ ‒ Fuͤrchten „ſie ſich vor nichts, mein Herr, antwortete ſie und „neigte ſich dabey. „Bey ihrer willfaͤhrigen Erklaͤrung, meine „Flucht geſchehen zu laſſen, iſt ſie nicht auf ihre eigne „Sicherheit bedacht geweſen, wenn ich davon gegan- „gen waͤre. Gleichwohl hatte ſie in dem Fall Urſa- „che, Rache von ihm zu erwarten: und es fehlt ihr „nicht an Ueberlegung ‒ ‒ Haͤtte ich ſie mit mir ge- „nommen: ſo waͤre das eben ſo gut, als wenn ich „mich ihrer Kundſchaft uͤberließe und verrathen ſeyn „wollte, wo ſie treulos iſt ‒ ‒ Jch will inzwiſchen, „ob ich gleich meine Behutſamkeit nicht fahren laſſe, „doch auch nach der Liebe urtheilen! ‒ Kann eine „Weibsperſon gegen die andere wohl ſo ſchaͤndlich „handeln? ‒ ‒ O ja! ‒ ‒ Fr. Sinclair: ihre Tan- „te ‒ ‒ ‒ Gott errette mich! ‒ ‒ Aber ach! ich ha- „be mich ſeinem Schutze durch die natuͤrlichen Mit- „tel ſchon ſelbſt entzogen ‒ ‒ und bin bereits zu „ſchanden gemacht! ‒ ‒ Eines Vaters Fluch iſt „gleichfalls wider mich! ‒ ‒ Da ich alle Warnun- gen, Fuͤnfter Theil. A a a

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/743
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 737. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/743>, abgerufen am 16.06.2024.