ten. So weint und klagt meine arme Tochter beständig. Sie hat in Wahrheit ihre eigene Glückseligkeit aus der Acht gelassen: weil sie un- glücklich sind!
Wenn Leute, die ihr eignes Verderben su- chen, allein für ihr starrköpfigtes Verfahren lei- den könnten: so wäre es noch etwas. Allein, o Fräulein, Fräulein, was haben sie zu verant- worten: da sie eben so viele betrübte Herzen ge- macht, als nur Leute gewesen sind, die sie ge- kannt haben? Das ganze Geschlecht hat in der That durch sie eine empfindliche Wunde bekom- men. Denn wer sonst, als Fräulein Clarissa Harlowe, wurde von allen Vätern und Müt- tern ihren Töchtern zu einem Muster vorge- stellet?
Jch schreibe einen langen Brief, indem ich willens war nur wenige Worte zu sagen. Jch wollte ihnen nur bloß verbieten, an mein Ann- chen zu schreiben: und das so wohl, weil sie einen solchen Fehltritt gethan haben, als weil es ihr armes Herz nur kränken, und ihnen nichts hel- fen wird. Wo sie ihnen also lieb ist: so schreiben sie ihr nicht. Der traurige Brief von ihnen ist mir in die Hände gefallen: da Annchen nicht zu Hause gewesen, und ich werde ihn ihr nicht zeigen. Denn sie würde kein Vergnügen davon haben, wenn sie ihn sehen sollte, und ich auch nicht, die ich an ihr mein Vergnügen habe. - - Wie ehe- dem an ihnen ihre Eltern. - -
Jedoch
ten. So weint und klagt meine arme Tochter beſtaͤndig. Sie hat in Wahrheit ihre eigene Gluͤckſeligkeit aus der Acht gelaſſen: weil ſie un- gluͤcklich ſind!
Wenn Leute, die ihr eignes Verderben ſu- chen, allein fuͤr ihr ſtarrkoͤpfigtes Verfahren lei- den koͤnnten: ſo waͤre es noch etwas. Allein, o Fraͤulein, Fraͤulein, was haben ſie zu verant- worten: da ſie eben ſo viele betruͤbte Herzen ge- macht, als nur Leute geweſen ſind, die ſie ge- kannt haben? Das ganze Geſchlecht hat in der That durch ſie eine empfindliche Wunde bekom- men. Denn wer ſonſt, als Fraͤulein Clariſſa Harlowe, wurde von allen Vaͤtern und Muͤt- tern ihren Toͤchtern zu einem Muſter vorge- ſtellet?
Jch ſchreibe einen langen Brief, indem ich willens war nur wenige Worte zu ſagen. Jch wollte ihnen nur bloß verbieten, an mein Ann- chen zu ſchreiben: und das ſo wohl, weil ſie einen ſolchen Fehltritt gethan haben, als weil es ihr armes Herz nur kraͤnken, und ihnen nichts hel- fen wird. Wo ſie ihnen alſo lieb iſt: ſo ſchreiben ſie ihr nicht. Der traurige Brief von ihnen iſt mir in die Haͤnde gefallen: da Annchen nicht zu Hauſe geweſen, und ich werde ihn ihr nicht zeigen. Denn ſie wuͤrde kein Vergnuͤgen davon haben, wenn ſie ihn ſehen ſollte, und ich auch nicht, die ich an ihr mein Vergnuͤgen habe. ‒ ‒ Wie ehe- dem an ihnen ihre Eltern. ‒ ‒
Jedoch
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><floatingText><body><p><pbfacs="#f0026"n="20"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
ten. So weint und klagt meine arme Tochter<lb/>
beſtaͤndig. Sie hat in Wahrheit ihre eigene<lb/>
Gluͤckſeligkeit aus der Acht gelaſſen: weil <hirendition="#fr">ſie</hi> un-<lb/>
gluͤcklich ſind!</p><lb/><p>Wenn Leute, die ihr eignes Verderben ſu-<lb/>
chen, allein fuͤr ihr ſtarrkoͤpfigtes Verfahren lei-<lb/>
den koͤnnten: ſo waͤre es noch etwas. Allein,<lb/>
o Fraͤulein, Fraͤulein, was haben <hirendition="#fr">ſie</hi> zu verant-<lb/>
worten: da ſie eben ſo viele betruͤbte Herzen ge-<lb/>
macht, als nur Leute geweſen ſind, die ſie ge-<lb/>
kannt haben? Das ganze Geſchlecht hat in der<lb/>
That durch ſie eine empfindliche Wunde bekom-<lb/>
men. Denn wer ſonſt, als Fraͤulein Clariſſa<lb/>
Harlowe, wurde von allen Vaͤtern und Muͤt-<lb/>
tern ihren Toͤchtern zu einem Muſter vorge-<lb/>ſtellet?</p><lb/><p>Jch ſchreibe einen langen Brief, indem ich<lb/>
willens war nur wenige Worte zu ſagen. Jch<lb/>
wollte ihnen nur bloß verbieten, an mein Ann-<lb/>
chen zu ſchreiben: und das ſo wohl, weil ſie einen<lb/>ſolchen Fehltritt gethan haben, als weil es ihr<lb/>
armes Herz nur kraͤnken, und ihnen nichts hel-<lb/>
fen wird. Wo ſie ihnen alſo lieb iſt: ſo ſchreiben<lb/>ſie ihr nicht. Der traurige Brief von ihnen iſt mir<lb/>
in die Haͤnde gefallen: da Annchen nicht zu Hauſe<lb/>
geweſen, und ich werde ihn ihr nicht zeigen.<lb/>
Denn ſie wuͤrde kein Vergnuͤgen davon haben,<lb/>
wenn ſie ihn ſehen ſollte, und ich auch nicht, die<lb/>
ich an ihr mein Vergnuͤgen habe. ‒‒ Wie ehe-<lb/>
dem an ihnen ihre Eltern. ‒‒</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Jedoch</fw><lb/></body></floatingText></div></div></body></text></TEI>
[20/0026]
ten. So weint und klagt meine arme Tochter
beſtaͤndig. Sie hat in Wahrheit ihre eigene
Gluͤckſeligkeit aus der Acht gelaſſen: weil ſie un-
gluͤcklich ſind!
Wenn Leute, die ihr eignes Verderben ſu-
chen, allein fuͤr ihr ſtarrkoͤpfigtes Verfahren lei-
den koͤnnten: ſo waͤre es noch etwas. Allein,
o Fraͤulein, Fraͤulein, was haben ſie zu verant-
worten: da ſie eben ſo viele betruͤbte Herzen ge-
macht, als nur Leute geweſen ſind, die ſie ge-
kannt haben? Das ganze Geſchlecht hat in der
That durch ſie eine empfindliche Wunde bekom-
men. Denn wer ſonſt, als Fraͤulein Clariſſa
Harlowe, wurde von allen Vaͤtern und Muͤt-
tern ihren Toͤchtern zu einem Muſter vorge-
ſtellet?
Jch ſchreibe einen langen Brief, indem ich
willens war nur wenige Worte zu ſagen. Jch
wollte ihnen nur bloß verbieten, an mein Ann-
chen zu ſchreiben: und das ſo wohl, weil ſie einen
ſolchen Fehltritt gethan haben, als weil es ihr
armes Herz nur kraͤnken, und ihnen nichts hel-
fen wird. Wo ſie ihnen alſo lieb iſt: ſo ſchreiben
ſie ihr nicht. Der traurige Brief von ihnen iſt mir
in die Haͤnde gefallen: da Annchen nicht zu Hauſe
geweſen, und ich werde ihn ihr nicht zeigen.
Denn ſie wuͤrde kein Vergnuͤgen davon haben,
wenn ſie ihn ſehen ſollte, und ich auch nicht, die
ich an ihr mein Vergnuͤgen habe. ‒ ‒ Wie ehe-
dem an ihnen ihre Eltern. ‒ ‒
Jedoch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/26>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.