Sie wandte sich von ihnen, und sagte zu sich selbst: Allzu viel! Allzu viel! - - Sie warf ihr Schnupftuch, das schon vorher von ihren Thränen durchnetzet war, von sich, und hielte ih- re Schürze an die Augen.
Weinen sie nicht, Fräulein, sagte die schänd- liche Marichen.
Ey ja! weinen sie nur, schrie die noch schändlichere Sarah, wo es eine Erleichterung ist. Nichts, wie Herr Lovelace mir einmal sagte, trock- net eher, als Thränen. Denn vormals weinte ich auch mächtig.
Jch konnte mir dieß nicht mit Gelassenheit erzählen lassen. Jedoch fluchte ich nicht halb so viel auf sie, als ich würde gethan haben, wenn ich nicht gesonnen gewesen wäre, alle Umstände von ihrer gelinden Begegnung herauszubringen. Dieß wollte ich aber aus einer gedoppelten Ursa- che: einmal, damit ich dich durch die Wiederholung herzlich kränken und rühren möchte; hiernächst, damit ich wüßte, auf was für Art ich wahrschein- licher Weise morgen die Fräulein sehen könnte.
Allein, Fräulein Harlowe, rief Sarah, halten sie diesen verlohrnen Anstand für artig? Sie sind eine gute Christinn, Kind. Fr. Row- land sagt mir, sie habe ihnen eine Bibel gebracht - - O da liegt sie! - - Jch zweifle nicht, sie werden die diensamen Stellen, wie der ehrliche Matthäus Prior sagt, eingeschlagen haben.
Hiemit stand sie auf und nahm die Bibel - - Ey, wahrlich, sie haben es gethan - - Das
Buch
Sie wandte ſich von ihnen, und ſagte zu ſich ſelbſt: Allzu viel! Allzu viel! ‒ ‒ Sie warf ihr Schnupftuch, das ſchon vorher von ihren Thraͤnen durchnetzet war, von ſich, und hielte ih- re Schuͤrze an die Augen.
Weinen ſie nicht, Fraͤulein, ſagte die ſchaͤnd- liche Marichen.
Ey ja! weinen ſie nur, ſchrie die noch ſchaͤndlichere Sarah, wo es eine Erleichterung iſt. Nichts, wie Herr Lovelace mir einmal ſagte, trock- net eher, als Thraͤnen. Denn vormals weinte ich auch maͤchtig.
Jch konnte mir dieß nicht mit Gelaſſenheit erzaͤhlen laſſen. Jedoch fluchte ich nicht halb ſo viel auf ſie, als ich wuͤrde gethan haben, wenn ich nicht geſonnen geweſen waͤre, alle Umſtaͤnde von ihrer gelinden Begegnung herauszubringen. Dieß wollte ich aber aus einer gedoppelten Urſa- che: einmal, damit ich dich durch die Wiederholung herzlich kraͤnken und ruͤhren moͤchte; hiernaͤchſt, damit ich wuͤßte, auf was fuͤr Art ich wahrſchein- licher Weiſe morgen die Fraͤulein ſehen koͤnnte.
Allein, Fraͤulein Harlowe, rief Sarah, halten ſie dieſen verlohrnen Anſtand fuͤr artig? Sie ſind eine gute Chriſtinn, Kind. Fr. Row- land ſagt mir, ſie habe ihnen eine Bibel gebracht ‒ ‒ O da liegt ſie! ‒ ‒ Jch zweifle nicht, ſie werden die dienſamen Stellen, wie der ehrliche Matthaͤus Prior ſagt, eingeſchlagen haben.
Hiemit ſtand ſie auf und nahm die Bibel ‒ ‒ Ey, wahrlich, ſie haben es gethan ‒ ‒ Das
Buch
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Sie wandte ſich von ihnen, und ſagte zu ſich
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ihr Schnupftuch, das ſchon vorher von ihren
Thraͤnen durchnetzet war, von ſich, und hielte ih-
re Schuͤrze an die Augen.
Weinen ſie nicht, Fraͤulein, ſagte die ſchaͤnd-
liche Marichen.
Ey ja! weinen ſie nur, ſchrie die noch
ſchaͤndlichere Sarah, wo es eine Erleichterung iſt.
Nichts, wie Herr Lovelace mir einmal ſagte, trock-
net eher, als Thraͤnen. Denn vormals weinte
ich auch maͤchtig.
Jch konnte mir dieß nicht mit Gelaſſenheit
erzaͤhlen laſſen. Jedoch fluchte ich nicht halb ſo
viel auf ſie, als ich wuͤrde gethan haben, wenn ich
nicht geſonnen geweſen waͤre, alle Umſtaͤnde von
ihrer gelinden Begegnung herauszubringen.
Dieß wollte ich aber aus einer gedoppelten Urſa-
che: einmal, damit ich dich durch die Wiederholung
herzlich kraͤnken und ruͤhren moͤchte; hiernaͤchſt,
damit ich wuͤßte, auf was fuͤr Art ich wahrſchein-
licher Weiſe morgen die Fraͤulein ſehen koͤnnte.
Allein, Fraͤulein Harlowe, rief Sarah,
halten ſie dieſen verlohrnen Anſtand fuͤr artig?
Sie ſind eine gute Chriſtinn, Kind. Fr. Row-
land ſagt mir, ſie habe ihnen eine Bibel gebracht
‒ ‒ O da liegt ſie! ‒ ‒ Jch zweifle nicht, ſie
werden die dienſamen Stellen, wie der ehrliche
Matthaͤus Prior ſagt, eingeſchlagen haben.
Hiemit ſtand ſie auf und nahm die Bibel ‒ ‒
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/307>, abgerufen am 22.11.2024.
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