Der sechs und funfzigste Brief. Die Fortsetzung von Herrn Belford.
Jhr werdet euch leicht vorstellen können, wie sehr mich damals ihre edelmüthige Rede und Aufführung gerühret habe: da mich die bloße Erinnerung und das Aufschreiben genöthigt, mei- ne Feder fallen zu lassen. Den Frauensleuten stunden die Thränen in den Augen. Jch schwieg auf einige Augenblicke stille - - Endlich rief ich: Unvergleichliches Muster aller Vorzüge! Ausbund unnachahmlicher Güte! So nannte ich sie in einem solchen Tone, daß ich mich hald vor mir selbst schämte, weil es vor den Frauens- personen war - - Aber wer konnte einer so er- habenen Großmuth in einem so jungen Frauen- zimmer widerstehen: da ihr liebenswürdiges We- sen allem, was sie sagte, Reiz und Anmuth gab? - - Mich deucht, sprach ich, und bog wirklich, gewissermaßen wider meinen Willen, die Kniee, mich deucht, ich habe in der That einen Engel vor mir. Jch kann mich kaum erwehren, vor ihnen niederzufallen, und um ihren Beystand zu bitten, daß sie mich zu der Welt, nach der sie trachten, nach sich ziehen! - - Jedoch - - Aber was soll ich sagen? - - Setzen sie mich
nur
Der ſechs und funfzigſte Brief. Die Fortſetzung von Herrn Belford.
Jhr werdet euch leicht vorſtellen koͤnnen, wie ſehr mich damals ihre edelmuͤthige Rede und Auffuͤhrung geruͤhret habe: da mich die bloße Erinnerung und das Aufſchreiben genoͤthigt, mei- ne Feder fallen zu laſſen. Den Frauensleuten ſtunden die Thraͤnen in den Augen. Jch ſchwieg auf einige Augenblicke ſtille ‒ ‒ Endlich rief ich: Unvergleichliches Muſter aller Vorzuͤge! Ausbund unnachahmlicher Guͤte! So nannte ich ſie in einem ſolchen Tone, daß ich mich hald vor mir ſelbſt ſchaͤmte, weil es vor den Frauens- perſonen war ‒ ‒ Aber wer konnte einer ſo er- habenen Großmuth in einem ſo jungen Frauen- zimmer widerſtehen: da ihr liebenswuͤrdiges We- ſen allem, was ſie ſagte, Reiz und Anmuth gab? ‒ ‒ Mich deucht, ſprach ich, und bog wirklich, gewiſſermaßen wider meinen Willen, die Kniee, mich deucht, ich habe in der That einen Engel vor mir. Jch kann mich kaum erwehren, vor ihnen niederzufallen, und um ihren Beyſtand zu bitten, daß ſie mich zu der Welt, nach der ſie trachten, nach ſich ziehen! ‒ ‒ Jedoch ‒ ‒ Aber was ſoll ich ſagen? ‒ ‒ Setzen ſie mich
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Der ſechs und funfzigſte Brief.
Die Fortſetzung
von
Herrn Belford.
Jhr werdet euch leicht vorſtellen koͤnnen, wie
ſehr mich damals ihre edelmuͤthige Rede
und Auffuͤhrung geruͤhret habe: da mich die bloße
Erinnerung und das Aufſchreiben genoͤthigt, mei-
ne Feder fallen zu laſſen. Den Frauensleuten
ſtunden die Thraͤnen in den Augen. Jch ſchwieg
auf einige Augenblicke ſtille ‒ ‒ Endlich rief
ich: Unvergleichliches Muſter aller Vorzuͤge!
Ausbund unnachahmlicher Guͤte! So nannte
ich ſie in einem ſolchen Tone, daß ich mich hald
vor mir ſelbſt ſchaͤmte, weil es vor den Frauens-
perſonen war ‒ ‒ Aber wer konnte einer ſo er-
habenen Großmuth in einem ſo jungen Frauen-
zimmer widerſtehen: da ihr liebenswuͤrdiges We-
ſen allem, was ſie ſagte, Reiz und Anmuth gab?
‒ ‒ Mich deucht, ſprach ich, und bog wirklich,
gewiſſermaßen wider meinen Willen, die Kniee,
mich deucht, ich habe in der That einen Engel
vor mir. Jch kann mich kaum erwehren, vor
ihnen niederzufallen, und um ihren Beyſtand zu
bitten, daß ſie mich zu der Welt, nach der ſie
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/444>, abgerufen am 24.11.2024.
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