"den Person nicht das Herz nagen: wenn sie um "sich herum auf ihre kleine Familie sehen, und "gedenken sollte, daß sie ihnen einen Vater gege- "ben hätte, der, ohne ein Wunderwerk, zum Ver- "derben bestimmt wäre, und dessen Laster durch "sein schändliches Beyspiel auf sie fortgepflanzet "werden, und, nur nach allzu vieler Wahrschein- "lichkeit, einen Fluch über sie bringen möchte? "- - Ja, wer weiß bey dem allen, ob nicht mei- "ne sündliche Gefälligkeit gegen einen Mann, der "sich selbst berechtigt halten würde, Gehorsam "von mir zu fordern, meine eigne Tugend anste- "cken, und mich, statt daß ich ihn bessern sollte, "zu einer Nachfolgerinn von ihm machen möch- "te? - - Denn wer kann Pech angreifen, "und sich nicht besudeln?
"Erlauben Sie mir also, noch einmal mich "zu erklären, daß ich diesen Mann aufrichtig ver- "achte! Wo ich mein eignes Herz kenne: so "thue ich es in Wahrheit! - - Jch habe Mit- "leiden mit ihm! - - So weit er auch für mein "Mitleiden zu niedrig ist: so habe ich doch Mit- "leiden mit ihm! - - Allein dieß könnte ich nicht "thun: wenn ich ihn noch liebte. Denn ge- "wiß, meine Wertheste, die Niederträchtigkeit "und Undankbarkeit desjenigen, den wir lieben, "müssen wir nothwendig höchst übel empfinden. "Jch liebe ihn daher nicht! Meine Seele verab- "scheuet es, Gemeinschaft mit ihm zu haben.
"Jst aber nun gleich so viel meinem Un wil- "len zuzuschreiben: so bin ich doch durch die zor-
"nigen
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„den Perſon nicht das Herz nagen: wenn ſie um „ſich herum auf ihre kleine Familie ſehen, und „gedenken ſollte, daß ſie ihnen einen Vater gege- „ben haͤtte, der, ohne ein Wunderwerk, zum Ver- „derben beſtimmt waͤre, und deſſen Laſter durch „ſein ſchaͤndliches Beyſpiel auf ſie fortgepflanzet „werden, und, nur nach allzu vieler Wahrſchein- „lichkeit, einen Fluch uͤber ſie bringen moͤchte? „‒ ‒ Ja, wer weiß bey dem allen, ob nicht mei- „ne ſuͤndliche Gefaͤlligkeit gegen einen Mann, der „ſich ſelbſt berechtigt halten wuͤrde, Gehorſam „von mir zu fordern, meine eigne Tugend anſte- „cken, und mich, ſtatt daß ich ihn beſſern ſollte, „zu einer Nachfolgerinn von ihm machen moͤch- „te? ‒ ‒ Denn wer kann Pech angreifen, „und ſich nicht beſudeln?
„Erlauben Sie mir alſo, noch einmal mich „zu erklaͤren, daß ich dieſen Mann aufrichtig ver- „achte! Wo ich mein eignes Herz kenne: ſo „thue ich es in Wahrheit! ‒ ‒ Jch habe Mit- „leiden mit ihm! ‒ ‒ So weit er auch fuͤr mein „Mitleiden zu niedrig iſt: ſo habe ich doch Mit- „leiden mit ihm! ‒ ‒ Allein dieß koͤnnte ich nicht „thun: wenn ich ihn noch liebte. Denn ge- „wiß, meine Wertheſte, die Niedertraͤchtigkeit „und Undankbarkeit desjenigen, den wir lieben, „muͤſſen wir nothwendig hoͤchſt uͤbel empfinden. „Jch liebe ihn daher nicht! Meine Seele verab- „ſcheuet es, Gemeinſchaft mit ihm zu haben.
„Jſt aber nun gleich ſo viel meinem Un wil- „len zuzuſchreiben: ſo bin ich doch durch die zor-
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„den Perſon nicht das Herz nagen: wenn ſie um
„ſich herum auf ihre kleine Familie ſehen, und
„gedenken ſollte, daß ſie ihnen einen Vater gege-
„ben haͤtte, der, ohne ein Wunderwerk, zum Ver-
„derben beſtimmt waͤre, und deſſen Laſter durch
„ſein ſchaͤndliches Beyſpiel auf ſie fortgepflanzet
„werden, und, nur nach allzu vieler Wahrſchein-
„lichkeit, einen Fluch uͤber ſie bringen moͤchte?
„‒ ‒ Ja, wer weiß bey dem allen, ob nicht mei-
„ne ſuͤndliche Gefaͤlligkeit gegen einen Mann, der
„ſich ſelbſt berechtigt halten wuͤrde, Gehorſam
„von mir zu fordern, meine eigne Tugend anſte-
„cken, und mich, ſtatt daß ich ihn beſſern ſollte,
„zu einer Nachfolgerinn von ihm machen moͤch-
„te? ‒ ‒ Denn wer kann Pech angreifen,
„und ſich nicht beſudeln?
„Erlauben Sie mir alſo, noch einmal mich
„zu erklaͤren, daß ich dieſen Mann aufrichtig ver-
„achte! Wo ich mein eignes Herz kenne: ſo
„thue ich es in Wahrheit! ‒ ‒ Jch habe Mit-
„leiden mit ihm! ‒ ‒ So weit er auch fuͤr mein
„Mitleiden zu niedrig iſt: ſo habe ich doch Mit-
„leiden mit ihm! ‒ ‒ Allein dieß koͤnnte ich nicht
„thun: wenn ich ihn noch liebte. Denn ge-
„wiß, meine Wertheſte, die Niedertraͤchtigkeit
„und Undankbarkeit desjenigen, den wir lieben,
„muͤſſen wir nothwendig hoͤchſt uͤbel empfinden.
„Jch liebe ihn daher nicht! Meine Seele verab-
„ſcheuet es, Gemeinſchaft mit ihm zu haben.
„Jſt aber nun gleich ſo viel meinem Un wil-
„len zuzuſchreiben: ſo bin ich doch durch die zor-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 487. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/493>, abgerufen am 22.11.2024.
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