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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

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Warum ist das Licht derjenigen gegeben,
die im Elende liegt: und das Leben der
betrübten Seele?
Die sich nach dem Tode sehnet; wiewohl
er nicht kommt; und mehr nach demsel-
ben, als nach verborgenen Schätzen
gräbet?
Warum ist das Licht einer Person gegeben,
deren Weg verdecket ist, und die Gott
umzäunet hat?
Denn, was ich heftig fürchtete, das ist über
mich gekommen!
Jch war nicht sicher; nicht ruhig; nicht
stille: und doch kam die Unruhe über
mich.
O daß meine Worte nun aufgeschrieben!
O daß sie in ein Buch gepräget! Daß
sie mit einer eisernen Feder und Bley auf
ewig in das Buch gegraben würden!

Jch habe ein wenig Zeit übrig, und das
Schreiben fließet mir gut. Erlaube mir, Love-
lace, daß ich über die heiligen Bücher einige An-
merkungen beybringe.

Man lehret uns die Bibel lesen, wenn wir
Kinder sind, und bloß als ein Buch zu den ersten
Erkenntnißgründen. So viel ich weiß, mag dieß
die Ursache seyn, warum wir über dieselbe hin-
aus zu seyn glauben, wenn wir zu reifern Jah-
ren gekommen sind. Denn ihr wisset, daß un-
sere Eltern so wohl, als wir selbst, unsern Wachs-

thum


Warum iſt das Licht derjenigen gegeben,
die im Elende liegt: und das Leben der
betruͤbten Seele?
Die ſich nach dem Tode ſehnet; wiewohl
er nicht kommt; und mehr nach demſel-
ben, als nach verborgenen Schaͤtzen
graͤbet?
Warum iſt das Licht einer Perſon gegeben,
deren Weg verdecket iſt, und die Gott
umzaͤunet hat?
Denn, was ich heftig fuͤrchtete, das iſt uͤber
mich gekommen!
Jch war nicht ſicher; nicht ruhig; nicht
ſtille: und doch kam die Unruhe uͤber
mich.
O daß meine Worte nun aufgeſchrieben!
O daß ſie in ein Buch gepraͤget! Daß
ſie mit einer eiſernen Feder und Bley auf
ewig in das Buch gegraben wuͤrden!

Jch habe ein wenig Zeit uͤbrig, und das
Schreiben fließet mir gut. Erlaube mir, Love-
lace, daß ich uͤber die heiligen Buͤcher einige An-
merkungen beybringe.

Man lehret uns die Bibel leſen, wenn wir
Kinder ſind, und bloß als ein Buch zu den erſten
Erkenntnißgruͤnden. So viel ich weiß, mag dieß
die Urſache ſeyn, warum wir uͤber dieſelbe hin-
aus zu ſeyn glauben, wenn wir zu reifern Jah-
ren gekommen ſind. Denn ihr wiſſet, daß un-
ſere Eltern ſo wohl, als wir ſelbſt, unſern Wachs-

thum
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[516/0522] Warum iſt das Licht derjenigen gegeben, die im Elende liegt: und das Leben der betruͤbten Seele? Die ſich nach dem Tode ſehnet; wiewohl er nicht kommt; und mehr nach demſel- ben, als nach verborgenen Schaͤtzen graͤbet? Warum iſt das Licht einer Perſon gegeben, deren Weg verdecket iſt, und die Gott umzaͤunet hat? Denn, was ich heftig fuͤrchtete, das iſt uͤber mich gekommen! Jch war nicht ſicher; nicht ruhig; nicht ſtille: und doch kam die Unruhe uͤber mich. O daß meine Worte nun aufgeſchrieben! O daß ſie in ein Buch gepraͤget! Daß ſie mit einer eiſernen Feder und Bley auf ewig in das Buch gegraben wuͤrden! Jch habe ein wenig Zeit uͤbrig, und das Schreiben fließet mir gut. Erlaube mir, Love- lace, daß ich uͤber die heiligen Buͤcher einige An- merkungen beybringe. Man lehret uns die Bibel leſen, wenn wir Kinder ſind, und bloß als ein Buch zu den erſten Erkenntnißgruͤnden. So viel ich weiß, mag dieß die Urſache ſeyn, warum wir uͤber dieſelbe hin- aus zu ſeyn glauben, wenn wir zu reifern Jah- ren gekommen ſind. Denn ihr wiſſet, daß un- ſere Eltern ſo wohl, als wir ſelbſt, unſern Wachs- thum

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/522>, abgerufen am 22.11.2024.