hätte, deren sie sonst nicht im geringsten hätte verdächtig werden können; wie sie des Bewußt- seyns von dem verdienten Ruhm, woraus sich die Mutter hoffnungsvoller Kinder eine Ehre machen kann, beraubt ist; wie ein jeder, der sie besuchet, oder von ihr besuchet wird, durch stumme Zeichen und Blicke, welche mehr bedeuten, als Worte ausdrücken können, Beyleid bezeuget, wo sie alle Glück zu wünschen pflegeten; wie das angenom- mene Stillschweigen derselben sie kränket, der mitleidige Blick ein trauriges Andenken in ihr erneuret, der halb verschluckte Seufzer, in jenen, tiefere Seufzer aus ihr presset, und die wegge- wandten Augen derselben, welche eine aufsteigen- de Thräne zurückzuhalten suchen, bey ihr Thrä- nen reizen, die nicht zurück gehalten seyn wollen.
Wenn ich diese Dinge erwäge, und ferner die Marter bedenke, welche das heftigere Herz mei- nes Vaters zerreißet, weil es sich nicht durch die Thränen erleichtern kann, die bey sanftern Ge- müthern den quälenden Kummer zu den Augen ableiten; wenn ich die überkochende Unruhe mei- nes ungedultigen und hitzigen Bruders überle- ge, der in dem Fall einer Schwester, aus welcher er sich vormals einen Ruhm machte, seine Ehre mit dem empfindlichsten Verdruß gekränket sie- het; wenn ich den Stolz einer ältern Schwe- ster, welche mit Widerwillen die Ehrenbezeigun- gen gegen eine jüngere, wobey sie selbst hintan- gesetzet war, ertragen hatte; und endlich die Schande betrachte, welche zweenen Onkeln
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haͤtte, deren ſie ſonſt nicht im geringſten haͤtte verdaͤchtig werden koͤnnen; wie ſie des Bewußt- ſeyns von dem verdienten Ruhm, woraus ſich die Mutter hoffnungsvoller Kinder eine Ehre machen kann, beraubt iſt; wie ein jeder, der ſie beſuchet, oder von ihr beſuchet wird, durch ſtumme Zeichen und Blicke, welche mehr bedeuten, als Worte ausdruͤcken koͤnnen, Beyleid bezeuget, wo ſie alle Gluͤck zu wuͤnſchen pflegeten; wie das angenom- mene Stillſchweigen derſelben ſie kraͤnket, der mitleidige Blick ein trauriges Andenken in ihr erneuret, der halb verſchluckte Seufzer, in jenen, tiefere Seufzer aus ihr preſſet, und die wegge- wandten Augen derſelben, welche eine aufſteigen- de Thraͤne zuruͤckzuhalten ſuchen, bey ihr Thraͤ- nen reizen, die nicht zuruͤck gehalten ſeyn wollen.
Wenn ich dieſe Dinge erwaͤge, und ferner die Marter bedenke, welche das heftigere Herz mei- nes Vaters zerreißet, weil es ſich nicht durch die Thraͤnen erleichtern kann, die bey ſanftern Ge- muͤthern den quaͤlenden Kummer zu den Augen ableiten; wenn ich die uͤberkochende Unruhe mei- nes ungedultigen und hitzigen Bruders uͤberle- ge, der in dem Fall einer Schweſter, aus welcher er ſich vormals einen Ruhm machte, ſeine Ehre mit dem empfindlichſten Verdruß gekraͤnket ſie- het; wenn ich den Stolz einer aͤltern Schwe- ſter, welche mit Widerwillen die Ehrenbezeigun- gen gegen eine juͤngere, wobey ſie ſelbſt hintan- geſetzet war, ertragen hatte; und endlich die Schande betrachte, welche zweenen Onkeln
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haͤtte, deren ſie ſonſt nicht im geringſten haͤtte
verdaͤchtig werden koͤnnen; wie ſie des Bewußt-
ſeyns von dem verdienten Ruhm, woraus ſich die
Mutter hoffnungsvoller Kinder eine Ehre machen
kann, beraubt iſt; wie ein jeder, der ſie beſuchet,
oder von ihr beſuchet wird, durch ſtumme Zeichen
und Blicke, welche mehr bedeuten, als Worte
ausdruͤcken koͤnnen, Beyleid bezeuget, wo ſie alle
Gluͤck zu wuͤnſchen pflegeten; wie das angenom-
mene Stillſchweigen derſelben ſie kraͤnket, der
mitleidige Blick ein trauriges Andenken in ihr
erneuret, der halb verſchluckte Seufzer, in jenen,
tiefere Seufzer aus ihr preſſet, und die wegge-
wandten Augen derſelben, welche eine aufſteigen-
de Thraͤne zuruͤckzuhalten ſuchen, bey ihr Thraͤ-
nen reizen, die nicht zuruͤck gehalten ſeyn wollen.
Wenn ich dieſe Dinge erwaͤge, und ferner die
Marter bedenke, welche das heftigere Herz mei-
nes Vaters zerreißet, weil es ſich nicht durch die
Thraͤnen erleichtern kann, die bey ſanftern Ge-
muͤthern den quaͤlenden Kummer zu den Augen
ableiten; wenn ich die uͤberkochende Unruhe mei-
nes ungedultigen und hitzigen Bruders uͤberle-
ge, der in dem Fall einer Schweſter, aus welcher
er ſich vormals einen Ruhm machte, ſeine Ehre
mit dem empfindlichſten Verdruß gekraͤnket ſie-
het; wenn ich den Stolz einer aͤltern Schwe-
ſter, welche mit Widerwillen die Ehrenbezeigun-
gen gegen eine juͤngere, wobey ſie ſelbſt hintan-
geſetzet war, ertragen hatte; und endlich die
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 640. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/646>, abgerufen am 22.11.2024.
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