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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

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Als ich letztens an Euch schrieb: so vermu-
thete
ich wohl, daß ich nicht Friede haben würde.

So wolltet ihr gern nach und nach heran-
kriechen, bis Jhr verlanget werdet, wieder aufge-
nommen zu seyn.

Allein Jhr hoffet nur bloß auf Vergebung
und einen Segen, schreibt Jhr. Wozu soll ein
Segen, Schwester Clärchen? Denket, wozu? - -
Nichts desto weniger las ich Euren Brief mei-
nem Vater und meiner Mutter vor.

Jch will Euch nicht erzählen, was mein Va-
ter sagte - - Eine, die das wahre Gefühl hat,
welches Jhr Euch von Euren Missethaten zu ha-
ben rühmet, kann schon errathen, ohne daß ich es
Euch erzähle, was ein billig zürnender Vater in
einem solchen Fall sagen würde.

Meine arme Mutter! - - O nichtswürdi-
ge Seele! Was hat Eure undankbare Thorheit
meiner armen Mutter nicht gekostet! - - Wäret
Jhr weniger geliebt worden: so würdet ihr viel-
leicht nicht so gottlos gewesen seyn. Aber ich ha-
be noch niemals in meinem Leben ein verzärteltes
Schooßkind wohlgerathen gesehen.

Mein Herz ist voll, und ich kann mich nicht
entbrechen, meine Meynung zu schreiben. Denn
Eure Laster haben uns alle in Schande gebracht.
Jch scheue und schäme mich in eine öffentliche
Versammlung oder eine besondre Gesellschaft
oder zu einer Lustbarkeit zu gehen. Und warum?
- - Jch darf nicht erst sagen warum: da Eu-
re Handlungen entweder zu dem öffentlichen Ge-

spräch


Als ich letztens an Euch ſchrieb: ſo vermu-
thete
ich wohl, daß ich nicht Friede haben wuͤrde.

So wolltet ihr gern nach und nach heran-
kriechen, bis Jhr verlanget werdet, wieder aufge-
nommen zu ſeyn.

Allein Jhr hoffet nur bloß auf Vergebung
und einen Segen, ſchreibt Jhr. Wozu ſoll ein
Segen, Schweſter Claͤrchen? Denket, wozu? ‒ ‒
Nichts deſto weniger las ich Euren Brief mei-
nem Vater und meiner Mutter vor.

Jch will Euch nicht erzaͤhlen, was mein Va-
ter ſagte ‒ ‒ Eine, die das wahre Gefuͤhl hat,
welches Jhr Euch von Euren Miſſethaten zu ha-
ben ruͤhmet, kann ſchon errathen, ohne daß ich es
Euch erzaͤhle, was ein billig zuͤrnender Vater in
einem ſolchen Fall ſagen wuͤrde.

Meine arme Mutter! ‒ ‒ O nichtswuͤrdi-
ge Seele! Was hat Eure undankbare Thorheit
meiner armen Mutter nicht gekoſtet! ‒ ‒ Waͤret
Jhr weniger geliebt worden: ſo wuͤrdet ihr viel-
leicht nicht ſo gottlos geweſen ſeyn. Aber ich ha-
be noch niemals in meinem Leben ein verzaͤrteltes
Schooßkind wohlgerathen geſehen.

Mein Herz iſt voll, und ich kann mich nicht
entbrechen, meine Meynung zu ſchreiben. Denn
Eure Laſter haben uns alle in Schande gebracht.
Jch ſcheue und ſchaͤme mich in eine oͤffentliche
Verſammlung oder eine beſondre Geſellſchaft
oder zu einer Luſtbarkeit zu gehen. Und warum?
‒ ‒ Jch darf nicht erſt ſagen warum: da Eu-
re Handlungen entweder zu dem oͤffentlichen Ge-

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[694/0700] Als ich letztens an Euch ſchrieb: ſo vermu- thete ich wohl, daß ich nicht Friede haben wuͤrde. So wolltet ihr gern nach und nach heran- kriechen, bis Jhr verlanget werdet, wieder aufge- nommen zu ſeyn. Allein Jhr hoffet nur bloß auf Vergebung und einen Segen, ſchreibt Jhr. Wozu ſoll ein Segen, Schweſter Claͤrchen? Denket, wozu? ‒ ‒ Nichts deſto weniger las ich Euren Brief mei- nem Vater und meiner Mutter vor. Jch will Euch nicht erzaͤhlen, was mein Va- ter ſagte ‒ ‒ Eine, die das wahre Gefuͤhl hat, welches Jhr Euch von Euren Miſſethaten zu ha- ben ruͤhmet, kann ſchon errathen, ohne daß ich es Euch erzaͤhle, was ein billig zuͤrnender Vater in einem ſolchen Fall ſagen wuͤrde. Meine arme Mutter! ‒ ‒ O nichtswuͤrdi- ge Seele! Was hat Eure undankbare Thorheit meiner armen Mutter nicht gekoſtet! ‒ ‒ Waͤret Jhr weniger geliebt worden: ſo wuͤrdet ihr viel- leicht nicht ſo gottlos geweſen ſeyn. Aber ich ha- be noch niemals in meinem Leben ein verzaͤrteltes Schooßkind wohlgerathen geſehen. Mein Herz iſt voll, und ich kann mich nicht entbrechen, meine Meynung zu ſchreiben. Denn Eure Laſter haben uns alle in Schande gebracht. Jch ſcheue und ſchaͤme mich in eine oͤffentliche Verſammlung oder eine beſondre Geſellſchaft oder zu einer Luſtbarkeit zu gehen. Und warum? ‒ ‒ Jch darf nicht erſt ſagen warum: da Eu- re Handlungen entweder zu dem oͤffentlichen Ge- ſpraͤch

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 694. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/700>, abgerufen am 22.11.2024.