hätte: da er unterdessen seine eigne Gewissensbisse kaum zu ertragen im Stande war, noch die Fräu- lein Harlowe die ihrigen. Diese brach in Wor- te aus: Wie anzüglich schreib ich an sie! Wie grausam spottete ich ihrer! Wie gelassen nahm sie es gleichwohl an! - - Wer hätte denken sollen, daß sie ihrem Ende so nahe gewesen wäre! - - O Bruder, Bruder! - - Wäret ihr es nur nicht gewesen! - - - Wäret ihr es nur nicht gewe- sen! - -
Verdoppelt meine Wehe über mich nicht, sprach er! - - Jch habe alles vor Augen, was geschehen ist! - Jch dachte nur eine liebe Schwe- ster, die sich vergangen hatte, wieder auf bessere Wege zu bringen! - - Jch war nicht willens, ihr zartes Herz zu brechen! - - Aber es war der schändliche Lovelace, der das that - - Keiner von uns allen! - - Schrieb sie mir gleichwohl nicht alles zu, Herr Vetter? - - Mir ist bange, daß sie es gethan! - - Sagen sie mir nur, nannte sie mich, redete sie von mir, in ihren letzten Stun- den? Jch hoffe, da sie dem größten Bösewicht auf Erden vergeben, und Vorstellungen für ihn thun konnte, damit er vor unserer Rache gesichert seyn möge: so, hoffe ich, konnte sie auch mir ver- geben.
Sie wünschte ihnen allen lauter Segen, und rechtfertigte ihre Strenge gegen sie vielmehr, als sie sie verdammte.
Darauf fingen sie noch ein allgemeines Klag- lied an. Wir sehen, sagte ihr Vater, wir sehen
zur
haͤtte: da er unterdeſſen ſeine eigne Gewiſſensbiſſe kaum zu ertragen im Stande war, noch die Fraͤu- lein Harlowe die ihrigen. Dieſe brach in Wor- te aus: Wie anzuͤglich ſchreib ich an ſie! Wie grauſam ſpottete ich ihrer! Wie gelaſſen nahm ſie es gleichwohl an! ‒ ‒ Wer haͤtte denken ſollen, daß ſie ihrem Ende ſo nahe geweſen waͤre! ‒ ‒ O Bruder, Bruder! ‒ ‒ Waͤret ihr es nur nicht geweſen! ‒ ‒ ‒ Waͤret ihr es nur nicht gewe- ſen! ‒ ‒
Verdoppelt meine Wehe uͤber mich nicht, ſprach er! ‒ ‒ Jch habe alles vor Augen, was geſchehen iſt! ‒ Jch dachte nur eine liebe Schwe- ſter, die ſich vergangen hatte, wieder auf beſſere Wege zu bringen! ‒ ‒ Jch war nicht willens, ihr zartes Herz zu brechen! ‒ ‒ Aber es war der ſchaͤndliche Lovelace, der das that ‒ ‒ Keiner von uns allen! ‒ ‒ Schrieb ſie mir gleichwohl nicht alles zu, Herr Vetter? ‒ ‒ Mir iſt bange, daß ſie es gethan! ‒ ‒ Sagen ſie mir nur, nannte ſie mich, redete ſie von mir, in ihren letzten Stun- den? Jch hoffe, da ſie dem groͤßten Boͤſewicht auf Erden vergeben, und Vorſtellungen fuͤr ihn thun konnte, damit er vor unſerer Rache geſichert ſeyn moͤge: ſo, hoffe ich, konnte ſie auch mir ver- geben.
Sie wuͤnſchte ihnen allen lauter Segen, und rechtfertigte ihre Strenge gegen ſie vielmehr, als ſie ſie verdammte.
Darauf fingen ſie noch ein allgemeines Klag- lied an. Wir ſehen, ſagte ihr Vater, wir ſehen
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haͤtte: da er unterdeſſen ſeine eigne Gewiſſensbiſſe
kaum zu ertragen im Stande war, noch die Fraͤu-
lein Harlowe die ihrigen. Dieſe brach in Wor-
te aus: Wie anzuͤglich ſchreib ich an ſie! Wie
grauſam ſpottete ich ihrer! Wie gelaſſen nahm
ſie es gleichwohl an! ‒ ‒ Wer haͤtte denken ſollen,
daß ſie ihrem Ende ſo nahe geweſen waͤre! ‒ ‒
O Bruder, Bruder! ‒ ‒ Waͤret ihr es nur nicht
geweſen! ‒ ‒ ‒ Waͤret ihr es nur nicht gewe-
ſen! ‒ ‒
Verdoppelt meine Wehe uͤber mich nicht,
ſprach er! ‒ ‒ Jch habe alles vor Augen, was
geſchehen iſt! ‒ Jch dachte nur eine liebe Schwe-
ſter, die ſich vergangen hatte, wieder auf beſſere
Wege zu bringen! ‒ ‒ Jch war nicht willens,
ihr zartes Herz zu brechen! ‒ ‒ Aber es war der
ſchaͤndliche Lovelace, der das that ‒ ‒ Keiner von
uns allen! ‒ ‒ Schrieb ſie mir gleichwohl nicht
alles zu, Herr Vetter? ‒ ‒ Mir iſt bange, daß
ſie es gethan! ‒ ‒ Sagen ſie mir nur, nannte ſie
mich, redete ſie von mir, in ihren letzten Stun-
den? Jch hoffe, da ſie dem groͤßten Boͤſewicht
auf Erden vergeben, und Vorſtellungen fuͤr ihn
thun konnte, damit er vor unſerer Rache geſichert
ſeyn moͤge: ſo, hoffe ich, konnte ſie auch mir ver-
geben.
Sie wuͤnſchte ihnen allen lauter Segen, und
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ſie ſie verdammte.
Darauf fingen ſie noch ein allgemeines Klag-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 570. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/576>, abgerufen am 22.11.2024.
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