Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751.

Bild:
<< vorherige Seite



schöne leblose Hand und küßte sie, und ging eilends
wieder weg.

Jhre beyden Onkels waren sprachlos. Sie
schienen einer auf des andern Beyspiel zu warten,
ob sie die Leiche ansehen sollten, oder nicht. Jch
befahl, den Deckel wieder aufzulegen. Darauf
eilten sie herzu, wie die andern auch wieder tha-
ten, den letzten Abschied von dem Kästlein zu neh-
men, das noch vor so kurzer Zeit einen so kostba-
ren Edelgestein in sich faßte.

Nun fand die Traurigkeit eines jeden leichter
Worte sich auszudrücken. Alle wandten sich mit
aller der Zärtlichkeit, welche die aufrichtigste Liebe
und die eifrigste Bewunderung einflößen konn-
ten, an die schöne Leiche, nach den verschiedenen
Stuffen ihrer Verwandtschaft: als wenn sie vor-
her keiner gesehen hätte. Es wäre ihre Neffe
selbst, sagten beyde Onkels; die beleidigte Heilige,
sprach ihr Onkel Harlowe; eben die lächelnde
Schwester, setzte Arabelle hinzu - - Das liebe
Kind! sagten alle - - Eben die Gütigkeit in ih-
rer Bildung! Eben die angenehmen Züge!
Eben das natürlich erhabne Wesen - - Sie
wäre ohne Streit glücklich! Das angenehme Lä-
cheln zeigte, daß sie es wäre: sie selbst hinge-
gen wären höchst unglückselig! - - Hierauf nahm
der Bruder noch einmal die leblose Hand, und
gelobte über derselben Rache an dem verfluchten
Urheber alles dieses Jammers.

Die unglücklichen Eltern nahmen sich vor,
noch nur einen Blick auf ihren Augapfel, auf

ihre
O o 4



ſchoͤne lebloſe Hand und kuͤßte ſie, und ging eilends
wieder weg.

Jhre beyden Onkels waren ſprachlos. Sie
ſchienen einer auf des andern Beyſpiel zu warten,
ob ſie die Leiche anſehen ſollten, oder nicht. Jch
befahl, den Deckel wieder aufzulegen. Darauf
eilten ſie herzu, wie die andern auch wieder tha-
ten, den letzten Abſchied von dem Kaͤſtlein zu neh-
men, das noch vor ſo kurzer Zeit einen ſo koſtba-
ren Edelgeſtein in ſich faßte.

Nun fand die Traurigkeit eines jeden leichter
Worte ſich auszudruͤcken. Alle wandten ſich mit
aller der Zaͤrtlichkeit, welche die aufrichtigſte Liebe
und die eifrigſte Bewunderung einfloͤßen konn-
ten, an die ſchoͤne Leiche, nach den verſchiedenen
Stuffen ihrer Verwandtſchaft: als wenn ſie vor-
her keiner geſehen haͤtte. Es waͤre ihre Neffe
ſelbſt, ſagten beyde Onkels; die beleidigte Heilige,
ſprach ihr Onkel Harlowe; eben die laͤchelnde
Schweſter, ſetzte Arabelle hinzu ‒ ‒ Das liebe
Kind! ſagten alle ‒ ‒ Eben die Guͤtigkeit in ih-
rer Bildung! Eben die angenehmen Zuͤge!
Eben das natuͤrlich erhabne Weſen ‒ ‒ Sie
waͤre ohne Streit gluͤcklich! Das angenehme Laͤ-
cheln zeigte, daß ſie es waͤre: ſie ſelbſt hinge-
gen waͤren hoͤchſt ungluͤckſelig! ‒ ‒ Hierauf nahm
der Bruder noch einmal die lebloſe Hand, und
gelobte uͤber derſelben Rache an dem verfluchten
Urheber alles dieſes Jammers.

Die ungluͤcklichen Eltern nahmen ſich vor,
noch nur einen Blick auf ihren Augapfel, auf

ihre
O o 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0589" n="583"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x017F;cho&#x0364;ne leblo&#x017F;e Hand und ku&#x0364;ßte &#x017F;ie, und ging eilends<lb/>
wieder weg.</p><lb/>
            <p>Jhre beyden Onkels waren &#x017F;prachlos. Sie<lb/>
&#x017F;chienen einer auf des andern Bey&#x017F;piel zu warten,<lb/>
ob &#x017F;ie die Leiche an&#x017F;ehen &#x017F;ollten, oder nicht. Jch<lb/>
befahl, den Deckel wieder aufzulegen. Darauf<lb/>
eilten &#x017F;ie herzu, wie die andern auch wieder tha-<lb/>
ten, den letzten Ab&#x017F;chied von dem Ka&#x0364;&#x017F;tlein zu neh-<lb/>
men, das noch vor &#x017F;o kurzer Zeit einen &#x017F;o ko&#x017F;tba-<lb/>
ren Edelge&#x017F;tein in &#x017F;ich faßte.</p><lb/>
            <p>Nun fand die Traurigkeit eines jeden leichter<lb/>
Worte &#x017F;ich auszudru&#x0364;cken. Alle wandten &#x017F;ich mit<lb/>
aller der Za&#x0364;rtlichkeit, welche die aufrichtig&#x017F;te Liebe<lb/>
und die eifrig&#x017F;te Bewunderung einflo&#x0364;ßen konn-<lb/>
ten, an die &#x017F;cho&#x0364;ne Leiche, nach den ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Stuffen ihrer Verwandt&#x017F;chaft: als wenn &#x017F;ie vor-<lb/>
her keiner ge&#x017F;ehen ha&#x0364;tte. Es wa&#x0364;re ihre Neffe<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, &#x017F;agten beyde Onkels; die beleidigte Heilige,<lb/>
&#x017F;prach ihr Onkel Harlowe; eben die la&#x0364;chelnde<lb/>
Schwe&#x017F;ter, &#x017F;etzte Arabelle hinzu &#x2012; &#x2012; Das liebe<lb/>
Kind! &#x017F;agten alle &#x2012; &#x2012; Eben die Gu&#x0364;tigkeit in ih-<lb/>
rer Bildung! Eben die angenehmen Zu&#x0364;ge!<lb/>
Eben das natu&#x0364;rlich erhabne We&#x017F;en &#x2012; &#x2012; Sie<lb/>
wa&#x0364;re ohne Streit glu&#x0364;cklich! Das angenehme La&#x0364;-<lb/>
cheln zeigte, daß <hi rendition="#fr">&#x017F;ie</hi> es wa&#x0364;re: <hi rendition="#fr">&#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t</hi> hinge-<lb/>
gen wa&#x0364;ren ho&#x0364;ch&#x017F;t unglu&#x0364;ck&#x017F;elig! &#x2012; &#x2012; Hierauf nahm<lb/>
der Bruder noch einmal die leblo&#x017F;e Hand, und<lb/>
gelobte u&#x0364;ber der&#x017F;elben Rache an dem verfluchten<lb/>
Urheber alles die&#x017F;es Jammers.</p><lb/>
            <p>Die unglu&#x0364;cklichen Eltern nahmen &#x017F;ich vor,<lb/>
noch nur einen Blick auf ihren Augapfel, auf<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O o 4</fw><fw place="bottom" type="catch">ihre</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[583/0589] ſchoͤne lebloſe Hand und kuͤßte ſie, und ging eilends wieder weg. Jhre beyden Onkels waren ſprachlos. Sie ſchienen einer auf des andern Beyſpiel zu warten, ob ſie die Leiche anſehen ſollten, oder nicht. Jch befahl, den Deckel wieder aufzulegen. Darauf eilten ſie herzu, wie die andern auch wieder tha- ten, den letzten Abſchied von dem Kaͤſtlein zu neh- men, das noch vor ſo kurzer Zeit einen ſo koſtba- ren Edelgeſtein in ſich faßte. Nun fand die Traurigkeit eines jeden leichter Worte ſich auszudruͤcken. Alle wandten ſich mit aller der Zaͤrtlichkeit, welche die aufrichtigſte Liebe und die eifrigſte Bewunderung einfloͤßen konn- ten, an die ſchoͤne Leiche, nach den verſchiedenen Stuffen ihrer Verwandtſchaft: als wenn ſie vor- her keiner geſehen haͤtte. Es waͤre ihre Neffe ſelbſt, ſagten beyde Onkels; die beleidigte Heilige, ſprach ihr Onkel Harlowe; eben die laͤchelnde Schweſter, ſetzte Arabelle hinzu ‒ ‒ Das liebe Kind! ſagten alle ‒ ‒ Eben die Guͤtigkeit in ih- rer Bildung! Eben die angenehmen Zuͤge! Eben das natuͤrlich erhabne Weſen ‒ ‒ Sie waͤre ohne Streit gluͤcklich! Das angenehme Laͤ- cheln zeigte, daß ſie es waͤre: ſie ſelbſt hinge- gen waͤren hoͤchſt ungluͤckſelig! ‒ ‒ Hierauf nahm der Bruder noch einmal die lebloſe Hand, und gelobte uͤber derſelben Rache an dem verfluchten Urheber alles dieſes Jammers. Die ungluͤcklichen Eltern nahmen ſich vor, noch nur einen Blick auf ihren Augapfel, auf ihre O o 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/589
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 583. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/589>, abgerufen am 16.07.2024.