Von Person war sie mehr lang, als von mitt- ler Größe. Jn ihrem ganzen Ansehen und We- sen zeigte sich ein erhabener Wohlstand, der auf eine bezaubernde Art die Gesinnung zuwege brach- te, welche alle belebte.
Dieses angebohrne und erhabene Wesen ver- leitete einige seichte Personen, die nicht wußten, wie sie die Ehrerbietung erklären sollten, die sich bey ihrem Anblick ihrer Herzen wider ihren Wil- len bemeisterten, ihr einen Stolz beyzumessen. Allein sie wußte nicht, was der Stolz im bösen Verstande war.
Sie können, wenn Sie diese Sache berühren, folgende Lehren von ihr mit einfließen lassen.
"Personen, die nur zufällige oder scheinbare "Vorzüge haben, mögen stolz seyn: allein eine "angebohrne Würde muß allezeit viel zu erhaben "seyn, daß entweder ein eingebildetes oder ein "hochmüthiges Wesen dabey statt haben sollte.
"Wer kann besser oder würdiger seyn, als "man hat seyn sollen? Und wer sollte über Ga- "ben, die man sich nicht selbst giebet, stolz seyn?
"Die größte und verächtlichste Unwissenheit "ist, wenn man sich selbst nicht kennet, und nicht "weiß, daß alles, was wir Vorzügliches haben, "ein Geschenk von Gott sey.
"Alle menschliche Vollkommenheit ist nur "vergleichungsweise eine Vollkommenheit. - - "Es giebt allezeit Personen, die uns so weit über-
"treffen,
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Jn ihrem Putze war ſie unnachahmlich zierlich.
Von Perſon war ſie mehr lang, als von mitt- ler Groͤße. Jn ihrem ganzen Anſehen und We- ſen zeigte ſich ein erhabener Wohlſtand, der auf eine bezaubernde Art die Geſinnung zuwege brach- te, welche alle belebte.
Dieſes angebohrne und erhabene Weſen ver- leitete einige ſeichte Perſonen, die nicht wußten, wie ſie die Ehrerbietung erklaͤren ſollten, die ſich bey ihrem Anblick ihrer Herzen wider ihren Wil- len bemeiſterten, ihr einen Stolz beyzumeſſen. Allein ſie wußte nicht, was der Stolz im boͤſen Verſtande war.
Sie koͤnnen, wenn Sie dieſe Sache beruͤhren, folgende Lehren von ihr mit einfließen laſſen.
„Perſonen, die nur zufaͤllige oder ſcheinbare „Vorzuͤge haben, moͤgen ſtolz ſeyn: allein eine „angebohrne Wuͤrde muß allezeit viel zu erhaben „ſeyn, daß entweder ein eingebildetes oder ein „hochmuͤthiges Weſen dabey ſtatt haben ſollte.
„Wer kann beſſer oder wuͤrdiger ſeyn, als „man hat ſeyn ſollen? Und wer ſollte uͤber Ga- „ben, die man ſich nicht ſelbſt giebet, ſtolz ſeyn?
„Die groͤßte und veraͤchtlichſte Unwiſſenheit „iſt, wenn man ſich ſelbſt nicht kennet, und nicht „weiß, daß alles, was wir Vorzuͤgliches haben, „ein Geſchenk von Gott ſey.
„Alle menſchliche Vollkommenheit iſt nur „vergleichungsweiſe eine Vollkommenheit. ‒ ‒ „Es giebt allezeit Perſonen, die uns ſo weit uͤber-
„treffen,
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Jn ihrem Putze war ſie unnachahmlich
zierlich.
Von Perſon war ſie mehr lang, als von mitt-
ler Groͤße. Jn ihrem ganzen Anſehen und We-
ſen zeigte ſich ein erhabener Wohlſtand, der auf
eine bezaubernde Art die Geſinnung zuwege brach-
te, welche alle belebte.
Dieſes angebohrne und erhabene Weſen ver-
leitete einige ſeichte Perſonen, die nicht wußten,
wie ſie die Ehrerbietung erklaͤren ſollten, die ſich
bey ihrem Anblick ihrer Herzen wider ihren Wil-
len bemeiſterten, ihr einen Stolz beyzumeſſen.
Allein ſie wußte nicht, was der Stolz im boͤſen
Verſtande war.
Sie koͤnnen, wenn Sie dieſe Sache beruͤhren,
folgende Lehren von ihr mit einfließen laſſen.
„Perſonen, die nur zufaͤllige oder ſcheinbare
„Vorzuͤge haben, moͤgen ſtolz ſeyn: allein eine
„angebohrne Wuͤrde muß allezeit viel zu erhaben
„ſeyn, daß entweder ein eingebildetes oder ein
„hochmuͤthiges Weſen dabey ſtatt haben ſollte.
„Wer kann beſſer oder wuͤrdiger ſeyn, als
„man hat ſeyn ſollen? Und wer ſollte uͤber Ga-
„ben, die man ſich nicht ſelbſt giebet, ſtolz ſeyn?
„Die groͤßte und veraͤchtlichſte Unwiſſenheit
„iſt, wenn man ſich ſelbſt nicht kennet, und nicht
„weiß, daß alles, was wir Vorzuͤgliches haben,
„ein Geſchenk von Gott ſey.
„Alle menſchliche Vollkommenheit iſt nur
„vergleichungsweiſe eine Vollkommenheit. ‒ ‒
„Es giebt allezeit Perſonen, die uns ſo weit uͤber-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 805. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/811>, abgerufen am 26.11.2024.
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