Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751.

Bild:
<< vorherige Seite


Jn ihrem Putze war sie unnachahmlich
zierlich.

Von Person war sie mehr lang, als von mitt-
ler Größe. Jn ihrem ganzen Ansehen und We-
sen zeigte sich ein erhabener Wohlstand, der auf
eine bezaubernde Art die Gesinnung zuwege brach-
te, welche alle belebte.

Dieses angebohrne und erhabene Wesen ver-
leitete einige seichte Personen, die nicht wußten,
wie sie die Ehrerbietung erklären sollten, die sich
bey ihrem Anblick ihrer Herzen wider ihren Wil-
len bemeisterten, ihr einen Stolz beyzumessen.
Allein sie wußte nicht, was der Stolz im bösen
Verstande war.

Sie können, wenn Sie diese Sache berühren,
folgende Lehren von ihr mit einfließen lassen.

"Personen, die nur zufällige oder scheinbare
"Vorzüge haben, mögen stolz seyn: allein eine
"angebohrne Würde muß allezeit viel zu erhaben
"seyn, daß entweder ein eingebildetes oder ein
"hochmüthiges Wesen dabey statt haben sollte.

"Wer kann besser oder würdiger seyn, als
"man hat seyn sollen? Und wer sollte über Ga-
"ben, die man sich nicht selbst giebet, stolz seyn?

"Die größte und verächtlichste Unwissenheit
"ist, wenn man sich selbst nicht kennet, und nicht
"weiß, daß alles, was wir Vorzügliches haben,
"ein Geschenk von Gott sey.

"Alle menschliche Vollkommenheit ist nur
"vergleichungsweise eine Vollkommenheit. - -
"Es giebt allezeit Personen, die uns so weit über-

"treffen,
E e e 3


Jn ihrem Putze war ſie unnachahmlich
zierlich.

Von Perſon war ſie mehr lang, als von mitt-
ler Groͤße. Jn ihrem ganzen Anſehen und We-
ſen zeigte ſich ein erhabener Wohlſtand, der auf
eine bezaubernde Art die Geſinnung zuwege brach-
te, welche alle belebte.

Dieſes angebohrne und erhabene Weſen ver-
leitete einige ſeichte Perſonen, die nicht wußten,
wie ſie die Ehrerbietung erklaͤren ſollten, die ſich
bey ihrem Anblick ihrer Herzen wider ihren Wil-
len bemeiſterten, ihr einen Stolz beyzumeſſen.
Allein ſie wußte nicht, was der Stolz im boͤſen
Verſtande war.

Sie koͤnnen, wenn Sie dieſe Sache beruͤhren,
folgende Lehren von ihr mit einfließen laſſen.

„Perſonen, die nur zufaͤllige oder ſcheinbare
„Vorzuͤge haben, moͤgen ſtolz ſeyn: allein eine
„angebohrne Wuͤrde muß allezeit viel zu erhaben
„ſeyn, daß entweder ein eingebildetes oder ein
„hochmuͤthiges Weſen dabey ſtatt haben ſollte.

„Wer kann beſſer oder wuͤrdiger ſeyn, als
„man hat ſeyn ſollen? Und wer ſollte uͤber Ga-
„ben, die man ſich nicht ſelbſt giebet, ſtolz ſeyn?

„Die groͤßte und veraͤchtlichſte Unwiſſenheit
„iſt, wenn man ſich ſelbſt nicht kennet, und nicht
„weiß, daß alles, was wir Vorzuͤgliches haben,
„ein Geſchenk von Gott ſey.

„Alle menſchliche Vollkommenheit iſt nur
„vergleichungsweiſe eine Vollkommenheit. ‒ ‒
„Es giebt allezeit Perſonen, die uns ſo weit uͤber-

„treffen,
E e e 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0811" n="805"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Jn ihrem Putze war &#x017F;ie unnachahmlich<lb/>
zierlich.</p><lb/>
          <p>Von Per&#x017F;on war &#x017F;ie mehr lang, als von mitt-<lb/>
ler Gro&#x0364;ße. Jn ihrem ganzen An&#x017F;ehen und We-<lb/>
&#x017F;en zeigte &#x017F;ich ein erhabener Wohl&#x017F;tand, der auf<lb/>
eine bezaubernde Art die Ge&#x017F;innung zuwege brach-<lb/>
te, welche alle belebte.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;es <hi rendition="#fr">angebohrne</hi> und erhabene We&#x017F;en ver-<lb/>
leitete einige &#x017F;eichte Per&#x017F;onen, die nicht wußten,<lb/>
wie &#x017F;ie die Ehrerbietung erkla&#x0364;ren &#x017F;ollten, die &#x017F;ich<lb/>
bey ihrem Anblick ihrer Herzen wider ihren Wil-<lb/>
len bemei&#x017F;terten, ihr einen Stolz beyzume&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Allein &#x017F;ie wußte nicht, was der Stolz im bo&#x0364;&#x017F;en<lb/>
Ver&#x017F;tande war.</p><lb/>
          <p>Sie ko&#x0364;nnen, wenn Sie die&#x017F;e Sache beru&#x0364;hren,<lb/>
folgende Lehren von ihr mit einfließen la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Per&#x017F;onen, die nur zufa&#x0364;llige oder &#x017F;cheinbare<lb/>
&#x201E;Vorzu&#x0364;ge haben, mo&#x0364;gen &#x017F;tolz &#x017F;eyn: allein eine<lb/>
&#x201E;angebohrne Wu&#x0364;rde muß allezeit viel zu erhaben<lb/>
&#x201E;&#x017F;eyn, daß entweder ein eingebildetes oder ein<lb/>
&#x201E;hochmu&#x0364;thiges We&#x017F;en dabey &#x017F;tatt haben &#x017F;ollte.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Wer kann be&#x017F;&#x017F;er oder wu&#x0364;rdiger &#x017F;eyn, als<lb/>
&#x201E;man hat &#x017F;eyn &#x017F;ollen? Und wer &#x017F;ollte u&#x0364;ber Ga-<lb/>
&#x201E;ben, die man &#x017F;ich nicht &#x017F;elb&#x017F;t giebet, &#x017F;tolz &#x017F;eyn?</p><lb/>
          <p>&#x201E;Die gro&#x0364;ßte und vera&#x0364;chtlich&#x017F;te Unwi&#x017F;&#x017F;enheit<lb/>
&#x201E;i&#x017F;t, wenn man &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t nicht kennet, und nicht<lb/>
&#x201E;weiß, daß alles, was wir Vorzu&#x0364;gliches haben,<lb/>
&#x201E;ein Ge&#x017F;chenk von Gott &#x017F;ey.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Alle men&#x017F;chliche Vollkommenheit i&#x017F;t nur<lb/>
&#x201E;vergleichungswei&#x017F;e eine Vollkommenheit. &#x2012; &#x2012;<lb/>
&#x201E;Es giebt allezeit Per&#x017F;onen, die uns &#x017F;o weit u&#x0364;ber-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E e e 3</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x201E;treffen,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[805/0811] Jn ihrem Putze war ſie unnachahmlich zierlich. Von Perſon war ſie mehr lang, als von mitt- ler Groͤße. Jn ihrem ganzen Anſehen und We- ſen zeigte ſich ein erhabener Wohlſtand, der auf eine bezaubernde Art die Geſinnung zuwege brach- te, welche alle belebte. Dieſes angebohrne und erhabene Weſen ver- leitete einige ſeichte Perſonen, die nicht wußten, wie ſie die Ehrerbietung erklaͤren ſollten, die ſich bey ihrem Anblick ihrer Herzen wider ihren Wil- len bemeiſterten, ihr einen Stolz beyzumeſſen. Allein ſie wußte nicht, was der Stolz im boͤſen Verſtande war. Sie koͤnnen, wenn Sie dieſe Sache beruͤhren, folgende Lehren von ihr mit einfließen laſſen. „Perſonen, die nur zufaͤllige oder ſcheinbare „Vorzuͤge haben, moͤgen ſtolz ſeyn: allein eine „angebohrne Wuͤrde muß allezeit viel zu erhaben „ſeyn, daß entweder ein eingebildetes oder ein „hochmuͤthiges Weſen dabey ſtatt haben ſollte. „Wer kann beſſer oder wuͤrdiger ſeyn, als „man hat ſeyn ſollen? Und wer ſollte uͤber Ga- „ben, die man ſich nicht ſelbſt giebet, ſtolz ſeyn? „Die groͤßte und veraͤchtlichſte Unwiſſenheit „iſt, wenn man ſich ſelbſt nicht kennet, und nicht „weiß, daß alles, was wir Vorzuͤgliches haben, „ein Geſchenk von Gott ſey. „Alle menſchliche Vollkommenheit iſt nur „vergleichungsweiſe eine Vollkommenheit. ‒ ‒ „Es giebt allezeit Perſonen, die uns ſo weit uͤber- „treffen, E e e 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/811
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 805. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/811>, abgerufen am 26.11.2024.