"Uebertretung des Gebotes, das uns verbietet, "unsers Nächsten Gut zu begehren."
Sie werden Gelegenheit haben, ihrer Liebes- werke zugedenken. Jhr Testament giebt Jhnen die besondere Beschaffenheit derselben einigerma- ßen zu erkennen. Jn der That, sie hatte in der klugen Austheilung derselben weder ein Beyspiel noch ihres gleichen.
Sie können sich in dieser Sache, wo sie sich auf die besondern Umstände bey Erzählung der- selben einlassen wollen, bey der Fr. Norton Raths erhohlen: und wenn ich sehe, was diese Jhnen mittheilen wird; so werde ich vielleicht noch einen Zusatz dazu machen.
Jn allem, was sie las, und in ihren Unterre- dungen darüber, mochte sie lieber Schönheiten, als Mängel finden. Jedoch pflegte sie zu bekla- gen, daß gewisse Schriftsteller der ersten Ord- nung, die im Stande wären, die Tugend zu erhö- hen, und das Laster zu beschämen, sich nur allzu oft mit bloßen Werken der Einbildungskraft, bey Sachen, die auf bloße Betrachtungen des Ver- standes ankämen, keinen Einfluß hätten, und nichts zur Erbauung beytrügen, beschäfftigten; bey Sa- chen, woraus keine gute Lehre oder Vorbild gezo- gen werden könnte.
Alles, was sie redete und that, war mit einem natürlich ungezwungenen und erhabenen Wesen begleitet. Dieß setzte sie über allen angenomme- nen Schein, und den Verdacht davon, hinaus. Denn bey allen ihren trefflichen Vorzügen war sie
williger
„Uebertretung des Gebotes, das uns verbietet, „unſers Naͤchſten Gut zu begehren.“
Sie werden Gelegenheit haben, ihrer Liebes- werke zugedenken. Jhr Teſtament giebt Jhnen die beſondere Beſchaffenheit derſelben einigerma- ßen zu erkennen. Jn der That, ſie hatte in der klugen Austheilung derſelben weder ein Beyſpiel noch ihres gleichen.
Sie koͤnnen ſich in dieſer Sache, wo ſie ſich auf die beſondern Umſtaͤnde bey Erzaͤhlung der- ſelben einlaſſen wollen, bey der Fr. Norton Raths erhohlen: und wenn ich ſehe, was dieſe Jhnen mittheilen wird; ſo werde ich vielleicht noch einen Zuſatz dazu machen.
Jn allem, was ſie las, und in ihren Unterre- dungen daruͤber, mochte ſie lieber Schoͤnheiten, als Maͤngel finden. Jedoch pflegte ſie zu bekla- gen, daß gewiſſe Schriftſteller der erſten Ord- nung, die im Stande waͤren, die Tugend zu erhoͤ- hen, und das Laſter zu beſchaͤmen, ſich nur allzu oft mit bloßen Werken der Einbildungskraft, bey Sachen, die auf bloße Betrachtungen des Ver- ſtandes ankaͤmen, keinen Einfluß haͤtten, und nichts zur Erbauung beytruͤgen, beſchaͤfftigten; bey Sa- chen, woraus keine gute Lehre oder Vorbild gezo- gen werden koͤnnte.
Alles, was ſie redete und that, war mit einem natuͤrlich ungezwungenen und erhabenen Weſen begleitet. Dieß ſetzte ſie uͤber allen angenomme- nen Schein, und den Verdacht davon, hinaus. Denn bey allen ihren trefflichen Vorzuͤgen war ſie
williger
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„Uebertretung des Gebotes, das uns verbietet,
„unſers Naͤchſten Gut zu begehren.“
Sie werden Gelegenheit haben, ihrer Liebes-
werke zugedenken. Jhr Teſtament giebt Jhnen
die beſondere Beſchaffenheit derſelben einigerma-
ßen zu erkennen. Jn der That, ſie hatte in der
klugen Austheilung derſelben weder ein Beyſpiel
noch ihres gleichen.
Sie koͤnnen ſich in dieſer Sache, wo ſie ſich
auf die beſondern Umſtaͤnde bey Erzaͤhlung der-
ſelben einlaſſen wollen, bey der Fr. Norton Raths
erhohlen: und wenn ich ſehe, was dieſe Jhnen
mittheilen wird; ſo werde ich vielleicht noch einen
Zuſatz dazu machen.
Jn allem, was ſie las, und in ihren Unterre-
dungen daruͤber, mochte ſie lieber Schoͤnheiten,
als Maͤngel finden. Jedoch pflegte ſie zu bekla-
gen, daß gewiſſe Schriftſteller der erſten Ord-
nung, die im Stande waͤren, die Tugend zu erhoͤ-
hen, und das Laſter zu beſchaͤmen, ſich nur allzu
oft mit bloßen Werken der Einbildungskraft, bey
Sachen, die auf bloße Betrachtungen des Ver-
ſtandes ankaͤmen, keinen Einfluß haͤtten, und nichts
zur Erbauung beytruͤgen, beſchaͤfftigten; bey Sa-
chen, woraus keine gute Lehre oder Vorbild gezo-
gen werden koͤnnte.
Alles, was ſie redete und that, war mit einem
natuͤrlich ungezwungenen und erhabenen Weſen
begleitet. Dieß ſetzte ſie uͤber allen angenomme-
nen Schein, und den Verdacht davon, hinaus.
Denn bey allen ihren trefflichen Vorzuͤgen war ſie
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 815. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/821>, abgerufen am 25.11.2024.
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