"in andere Ausschweifungen gerathen. Allzu "viele Furcht kann leicht die Standhastigkeit sei- "nes Gemüths erschüttern: und allzu vieles Mit- "leiden kann leicht seine Billigkeit verringern. "Es gehört für die Trauerspiele, diese beyden "Schwachheiten regelmäßig zu lenken. Sie be- "reiten ihn vor zu Unglücksfällen, und bewaff- "nen ihn dagegen; indem sie ihm zeigen, daß sie "bey den ansehnlichsten Personen so oft vorkom- "men: und er wird sich nicht mehr vor außeror- "dentlichen Zufällen fürchten, wenn er siehet, daß "sie dem erhabensten, und das Beyspiel wird "noch kräftiger werden, mögen wir hinzusetzen, "wenn er siehet, daß sie dem besten Theil der "Menschen begegnen.
"Allein wie die Absicht der Trauerspiele ist, "die Menschen zu lehren, daß sie sich nicht mit "allzu großer Schwachheit vor gemeinen Un- "glücksfällen fürchten: so haben sie auch den "Zweck, sie zu lehren, daß sie ihr Mitleiden für "Personen, die es verdienen, aufbehalten. Denn "es ist eine Ungerechtigkeit: wenn man durch "die Drangsale solcher Leute, die unglücklich zu "seyn verdienen, gerühret wird. Wir können, "ohne Mitleiden, die Clytemnestra durch ihren "Sohn Orestes in dem Aeschylus erschlagen se- "hen; weil sie ihren Gemahl, Agamemnon, er- "mordet hatte: und den Hippolytus können wir "nicht ohne Erbarmen durch die Ränke seiner
"Stief-
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„in andere Ausſchweifungen gerathen. Allzu „viele Furcht kann leicht die Standhaſtigkeit ſei- „nes Gemuͤths erſchuͤttern: und allzu vieles Mit- „leiden kann leicht ſeine Billigkeit verringern. „Es gehoͤrt fuͤr die Trauerſpiele, dieſe beyden „Schwachheiten regelmaͤßig zu lenken. Sie be- „reiten ihn vor zu Ungluͤcksfaͤllen, und bewaff- „nen ihn dagegen; indem ſie ihm zeigen, daß ſie „bey den anſehnlichſten Perſonen ſo oft vorkom- „men: und er wird ſich nicht mehr vor außeror- „dentlichen Zufaͤllen fuͤrchten, wenn er ſiehet, daß „ſie dem erhabenſten, und das Beyſpiel wird „noch kraͤftiger werden, moͤgen wir hinzuſetzen, „wenn er ſiehet, daß ſie dem beſten Theil der „Menſchen begegnen.
„Allein wie die Abſicht der Trauerſpiele iſt, „die Menſchen zu lehren, daß ſie ſich nicht mit „allzu großer Schwachheit vor gemeinen Un- „gluͤcksfaͤllen fuͤrchten: ſo haben ſie auch den „Zweck, ſie zu lehren, daß ſie ihr Mitleiden fuͤr „Perſonen, die es verdienen, aufbehalten. Denn „es iſt eine Ungerechtigkeit: wenn man durch „die Drangſale ſolcher Leute, die ungluͤcklich zu „ſeyn verdienen, geruͤhret wird. Wir koͤnnen, „ohne Mitleiden, die Clytemneſtra durch ihren „Sohn Oreſtes in dem Aeſchylus erſchlagen ſe- „hen; weil ſie ihren Gemahl, Agamemnon, er- „mordet hatte: und den Hippolytus koͤnnen wir „nicht ohne Erbarmen durch die Raͤnke ſeiner
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„in andere Ausſchweifungen gerathen. Allzu
„viele Furcht kann leicht die Standhaſtigkeit ſei-
„nes Gemuͤths erſchuͤttern: und allzu vieles Mit-
„leiden kann leicht ſeine Billigkeit verringern.
„Es gehoͤrt fuͤr die Trauerſpiele, dieſe beyden
„Schwachheiten regelmaͤßig zu lenken. Sie be-
„reiten ihn vor zu Ungluͤcksfaͤllen, und bewaff-
„nen ihn dagegen; indem ſie ihm zeigen, daß ſie
„bey den anſehnlichſten Perſonen ſo oft vorkom-
„men: und er wird ſich nicht mehr vor außeror-
„dentlichen Zufaͤllen fuͤrchten, wenn er ſiehet, daß
„ſie dem erhabenſten, und das Beyſpiel wird
„noch kraͤftiger werden, moͤgen wir hinzuſetzen,
„wenn er ſiehet, daß ſie dem beſten Theil der
„Menſchen begegnen.
„Allein wie die Abſicht der Trauerſpiele iſt,
„die Menſchen zu lehren, daß ſie ſich nicht mit
„allzu großer Schwachheit vor gemeinen Un-
„gluͤcksfaͤllen fuͤrchten: ſo haben ſie auch den
„Zweck, ſie zu lehren, daß ſie ihr Mitleiden fuͤr
„Perſonen, die es verdienen, aufbehalten. Denn
„es iſt eine Ungerechtigkeit: wenn man durch
„die Drangſale ſolcher Leute, die ungluͤcklich zu
„ſeyn verdienen, geruͤhret wird. Wir koͤnnen,
„ohne Mitleiden, die Clytemneſtra durch ihren
„Sohn Oreſtes in dem Aeſchylus erſchlagen ſe-
„hen; weil ſie ihren Gemahl, Agamemnon, er-
„mordet hatte: und den Hippolytus koͤnnen wir
„nicht ohne Erbarmen durch die Raͤnke ſeiner
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 903. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/909>, abgerufen am 24.11.2024.
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