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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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A. Altorientalisches.
diesen in den nächstinneren und so weiter überzuschleifen, um dann
vom Mittelpunkte heraus wieder in die nächstfolgende Tangente über-
zugehen. Freilich ist diese Entwicklungsreihe a priori konstruirt und
bedarf erst des Beleges an der Hand von erhaltenen Denkmälern.
Aber die Uebersicht von Taf. VIII bei Goodyear, welche diese Reihe
-- freilich leider ohne eine gesicherte chronologische Ordnung -- lückenlos
herstellt, wird manchem Beschauer den geschilderten Entwicklungsgang
weit natürlicher erscheinen lassen, als den umgekehrten, welchen Good-
year annimmt, wonach die Spirale als vegetabilisches Motiv (der Voluten-
kelch der Lotusblüthe) das Ursprüngliche gewesen wäre, und im Wege
der schrittweisen Denaturirung und Geometrisirung allmälig zum blossen
linearen Kreise mit mittlerem Punkte zusammengeschrumpft wäre.

Um nun kein Missverständniss aufkommen zu lassen, will ich gleich
ausdrücklich erklären, dass ich die eben versuchte Ableitung der Spirale
aus dem Kreisornamente keineswegs für die einzig mögliche, und darum
für eine zwingende halte. Es war mir auch nicht so sehr darum zu
thun, die überzahlreichen im Schwange befindlichen Erklärungsversuche
für die Spirale und dergleichen allgemeine und uralte Ornamente um
einen neuen zu vermehren. Meine Absicht ging vielmehr dahin, dar-
zuthun, dass eine solche Erklärung -- wenn sie schon geliefert werden
soll -- nicht bloss an eine primitive Technik, oder an bestimmte, wenig
bedeutsame Naturvorbilder anzuknüpfen braucht, sondern, dass dieselbe
auch auf ornament-entwicklungsgeschichtlichem Wege durchgeführt
werden kann, womit wir wenigstens weit mehr auf dem ureigenen Boden
der Kunst bleiben, als mit der Citirung irgend einer todten Technik
oder einer leeren Abschreibung der Natur, und zwar von solchen
Erzeugnissen der Natur, die bei ihrer geringen Bedeutsamkeit dem
primitiven Menschen gar nicht aufgefallen sein können38).

Der Vollständigkeit halber muss hier auch der Stübel'schen Hypo-
these (Ueber altperuanische Gewebemuster etc., in der Festschrift des
Vereins f. Erdkunde in Dresden 1888) gedacht werden, die insofern der
vorhin versuchsweise gegebenen Ableitung des Spiralenmotivs nahe
kommt, als auch Stübel hiebei von den koncentrischen Kreisen ausge-
gangen ist. Aber auf so zufällige Weise wie das Zusammenbringen von
bemalten Thonscherben oder das Zusammennähen gemusterter Stoffe,
pflegen Ornamente nicht zu entstehen, und am allerwenigsten solche, die

38) Die ihnen gefährlichen oder nützlichen Thiere haben die Troglodyten
wohl nachgebildet, aber keine spiraligen Rebranken, und gewiss auch nicht
Geflechte, wenn sie deren überhaupt besessen hätten.

A. Altorientalisches.
diesen in den nächstinneren und so weiter überzuschleifen, um dann
vom Mittelpunkte heraus wieder in die nächstfolgende Tangente über-
zugehen. Freilich ist diese Entwicklungsreihe a priori konstruirt und
bedarf erst des Beleges an der Hand von erhaltenen Denkmälern.
Aber die Uebersicht von Taf. VIII bei Goodyear, welche diese Reihe
— freilich leider ohne eine gesicherte chronologische Ordnung — lückenlos
herstellt, wird manchem Beschauer den geschilderten Entwicklungsgang
weit natürlicher erscheinen lassen, als den umgekehrten, welchen Good-
year annimmt, wonach die Spirale als vegetabilisches Motiv (der Voluten-
kelch der Lotusblüthe) das Ursprüngliche gewesen wäre, und im Wege
der schrittweisen Denaturirung und Geometrisirung allmälig zum blossen
linearen Kreise mit mittlerem Punkte zusammengeschrumpft wäre.

Um nun kein Missverständniss aufkommen zu lassen, will ich gleich
ausdrücklich erklären, dass ich die eben versuchte Ableitung der Spirale
aus dem Kreisornamente keineswegs für die einzig mögliche, und darum
für eine zwingende halte. Es war mir auch nicht so sehr darum zu
thun, die überzahlreichen im Schwange befindlichen Erklärungsversuche
für die Spirale und dergleichen allgemeine und uralte Ornamente um
einen neuen zu vermehren. Meine Absicht ging vielmehr dahin, dar-
zuthun, dass eine solche Erklärung — wenn sie schon geliefert werden
soll — nicht bloss an eine primitive Technik, oder an bestimmte, wenig
bedeutsame Naturvorbilder anzuknüpfen braucht, sondern, dass dieselbe
auch auf ornament-entwicklungsgeschichtlichem Wege durchgeführt
werden kann, womit wir wenigstens weit mehr auf dem ureigenen Boden
der Kunst bleiben, als mit der Citirung irgend einer todten Technik
oder einer leeren Abschreibung der Natur, und zwar von solchen
Erzeugnissen der Natur, die bei ihrer geringen Bedeutsamkeit dem
primitiven Menschen gar nicht aufgefallen sein können38).

Der Vollständigkeit halber muss hier auch der Stübel’schen Hypo-
these (Ueber altperuanische Gewebemuster etc., in der Festschrift des
Vereins f. Erdkunde in Dresden 1888) gedacht werden, die insofern der
vorhin versuchsweise gegebenen Ableitung des Spiralenmotivs nahe
kommt, als auch Stübel hiebei von den koncentrischen Kreisen ausge-
gangen ist. Aber auf so zufällige Weise wie das Zusammenbringen von
bemalten Thonscherben oder das Zusammennähen gemusterter Stoffe,
pflegen Ornamente nicht zu entstehen, und am allerwenigsten solche, die

38) Die ihnen gefährlichen oder nützlichen Thiere haben die Troglodyten
wohl nachgebildet, aber keine spiraligen Rebranken, und gewiss auch nicht
Geflechte, wenn sie deren überhaupt besessen hätten.
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[80/0106] A. Altorientalisches. diesen in den nächstinneren und so weiter überzuschleifen, um dann vom Mittelpunkte heraus wieder in die nächstfolgende Tangente über- zugehen. Freilich ist diese Entwicklungsreihe a priori konstruirt und bedarf erst des Beleges an der Hand von erhaltenen Denkmälern. Aber die Uebersicht von Taf. VIII bei Goodyear, welche diese Reihe — freilich leider ohne eine gesicherte chronologische Ordnung — lückenlos herstellt, wird manchem Beschauer den geschilderten Entwicklungsgang weit natürlicher erscheinen lassen, als den umgekehrten, welchen Good- year annimmt, wonach die Spirale als vegetabilisches Motiv (der Voluten- kelch der Lotusblüthe) das Ursprüngliche gewesen wäre, und im Wege der schrittweisen Denaturirung und Geometrisirung allmälig zum blossen linearen Kreise mit mittlerem Punkte zusammengeschrumpft wäre. Um nun kein Missverständniss aufkommen zu lassen, will ich gleich ausdrücklich erklären, dass ich die eben versuchte Ableitung der Spirale aus dem Kreisornamente keineswegs für die einzig mögliche, und darum für eine zwingende halte. Es war mir auch nicht so sehr darum zu thun, die überzahlreichen im Schwange befindlichen Erklärungsversuche für die Spirale und dergleichen allgemeine und uralte Ornamente um einen neuen zu vermehren. Meine Absicht ging vielmehr dahin, dar- zuthun, dass eine solche Erklärung — wenn sie schon geliefert werden soll — nicht bloss an eine primitive Technik, oder an bestimmte, wenig bedeutsame Naturvorbilder anzuknüpfen braucht, sondern, dass dieselbe auch auf ornament-entwicklungsgeschichtlichem Wege durchgeführt werden kann, womit wir wenigstens weit mehr auf dem ureigenen Boden der Kunst bleiben, als mit der Citirung irgend einer todten Technik oder einer leeren Abschreibung der Natur, und zwar von solchen Erzeugnissen der Natur, die bei ihrer geringen Bedeutsamkeit dem primitiven Menschen gar nicht aufgefallen sein können 38). Der Vollständigkeit halber muss hier auch der Stübel’schen Hypo- these (Ueber altperuanische Gewebemuster etc., in der Festschrift des Vereins f. Erdkunde in Dresden 1888) gedacht werden, die insofern der vorhin versuchsweise gegebenen Ableitung des Spiralenmotivs nahe kommt, als auch Stübel hiebei von den koncentrischen Kreisen ausge- gangen ist. Aber auf so zufällige Weise wie das Zusammenbringen von bemalten Thonscherben oder das Zusammennähen gemusterter Stoffe, pflegen Ornamente nicht zu entstehen, und am allerwenigsten solche, die 38) Die ihnen gefährlichen oder nützlichen Thiere haben die Troglodyten wohl nachgebildet, aber keine spiraligen Rebranken, und gewiss auch nicht Geflechte, wenn sie deren überhaupt besessen hätten.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/106>, abgerufen am 21.11.2024.