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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Egyptisches.
der einfache geometrische Dekor die überwiegende Rolle. Allerdings
kann man auch häufig die menschliche Figur zu blossen Schmückungs-
zwecken herangezogen sehen, doch wird uns dieser Umstand nicht mehr
so überraschen, seitdem wir gesehen haben, dass die plastische Wieder-
gabe von Naturwesen zu ornamentalen Zwecken dem Menschen bereits
auf der Kulturstufe der Troglodyten eigen war. Das Können dieser
letzteren blieb zwar hinter demjenigen der Egypter um ein Erkleck-
liches zurück, aber im Kunstwollen war der Abstand keineswegs ein
unüberbrückbarer. Die Verwendung der menschlichen Figur in Rund-
werk zu einem Löffel-Handgriff ist nicht wesentlich höher zu stellen,
als diejenige eines Rennthiers zu ähnlichem Zwecke, namentlich wenn
dies in so kunstverständiger Weise geschehen ist, wie wir es in Fig. 1
kennen gelernt haben.

Man könnte aus dem Gesagten die Berechtigung ableiten, den Alt-
egyptern in Bezug auf die Entwicklung der dekorativen Künste nicht
ein so entschiedenes Hinausschreiten über die Kunststufe der Troglo-
dyten zuzubilligen, als man es nach anscheinend so fundamentalen
Leistungen wie die Schaffung von pflanzlichen Ornamenttypen, erwarten
dürfte. Ein solches Urtheil wäre aber ein einseitiges; um jener Er-
scheinung wirklich gerecht zu werden, muss man die Stellung der alt-
egyptischen Kunst in der Kunstgeschichte überhaupt in's Auge fassen.
Da neigt sich die Wage sofort zu Gunsten der Egypter. Die egyptische
Kunst hatte sich eben -- die Erste soviel wir wissen -- Aufgaben ge-
stellt, die weit über die Befriedigung eines blossen Schmückungstriebes
hinausgingen. Die Kunst der alten Egypter war im Wesent-
lichen von gegenständlicher Bedeutung
. Das Kunstschaffen
hatte bei ihnen nicht mehr bloss den Zweck des Schmückens, seine
vornehmste Bestimmung lag vielmehr darin, Empfindungen, Stimmungen,
Vorstellungen Ausdruck zu geben, die mit der reinen Freude am Schönen
nichts Unmittelbares gemeinsam hatten: ich verweise hiefür bloss auf
die umfassende Verwendung der Kunst im egyptischen Sepulkralwesen.
Wenn wir in dem Aufkommen solcher Anforderungen an das Kunst-
schaffen zweifellos das Zeugniss einer höheren, vollkommeneren Kultur-
stufe zu erblicken haben, so sind die Egypter, so viel wir sehen, die
Ersten gewesen, denen es gelungen ist, sich zu dieser Kulturstufe empor-
zuschwingen.

Die künstlerischen Aufgaben, die den Egyptern aus den also ver-
änderten und gesteigerten Kulturverhältnissen erwuchsen, waren so
hochgespannte, die Schwierigkeiten ihrer Lösung mit Rücksicht auf das

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1. Egyptisches.
der einfache geometrische Dekor die überwiegende Rolle. Allerdings
kann man auch häufig die menschliche Figur zu blossen Schmückungs-
zwecken herangezogen sehen, doch wird uns dieser Umstand nicht mehr
so überraschen, seitdem wir gesehen haben, dass die plastische Wieder-
gabe von Naturwesen zu ornamentalen Zwecken dem Menschen bereits
auf der Kulturstufe der Troglodyten eigen war. Das Können dieser
letzteren blieb zwar hinter demjenigen der Egypter um ein Erkleck-
liches zurück, aber im Kunstwollen war der Abstand keineswegs ein
unüberbrückbarer. Die Verwendung der menschlichen Figur in Rund-
werk zu einem Löffel-Handgriff ist nicht wesentlich höher zu stellen,
als diejenige eines Rennthiers zu ähnlichem Zwecke, namentlich wenn
dies in so kunstverständiger Weise geschehen ist, wie wir es in Fig. 1
kennen gelernt haben.

Man könnte aus dem Gesagten die Berechtigung ableiten, den Alt-
egyptern in Bezug auf die Entwicklung der dekorativen Künste nicht
ein so entschiedenes Hinausschreiten über die Kunststufe der Troglo-
dyten zuzubilligen, als man es nach anscheinend so fundamentalen
Leistungen wie die Schaffung von pflanzlichen Ornamenttypen, erwarten
dürfte. Ein solches Urtheil wäre aber ein einseitiges; um jener Er-
scheinung wirklich gerecht zu werden, muss man die Stellung der alt-
egyptischen Kunst in der Kunstgeschichte überhaupt in’s Auge fassen.
Da neigt sich die Wage sofort zu Gunsten der Egypter. Die egyptische
Kunst hatte sich eben — die Erste soviel wir wissen — Aufgaben ge-
stellt, die weit über die Befriedigung eines blossen Schmückungstriebes
hinausgingen. Die Kunst der alten Egypter war im Wesent-
lichen von gegenständlicher Bedeutung
. Das Kunstschaffen
hatte bei ihnen nicht mehr bloss den Zweck des Schmückens, seine
vornehmste Bestimmung lag vielmehr darin, Empfindungen, Stimmungen,
Vorstellungen Ausdruck zu geben, die mit der reinen Freude am Schönen
nichts Unmittelbares gemeinsam hatten: ich verweise hiefür bloss auf
die umfassende Verwendung der Kunst im egyptischen Sepulkralwesen.
Wenn wir in dem Aufkommen solcher Anforderungen an das Kunst-
schaffen zweifellos das Zeugniss einer höheren, vollkommeneren Kultur-
stufe zu erblicken haben, so sind die Egypter, so viel wir sehen, die
Ersten gewesen, denen es gelungen ist, sich zu dieser Kulturstufe empor-
zuschwingen.

Die künstlerischen Aufgaben, die den Egyptern aus den also ver-
änderten und gesteigerten Kulturverhältnissen erwuchsen, waren so
hochgespannte, die Schwierigkeiten ihrer Lösung mit Rücksicht auf das

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[83/0109] 1. Egyptisches. der einfache geometrische Dekor die überwiegende Rolle. Allerdings kann man auch häufig die menschliche Figur zu blossen Schmückungs- zwecken herangezogen sehen, doch wird uns dieser Umstand nicht mehr so überraschen, seitdem wir gesehen haben, dass die plastische Wieder- gabe von Naturwesen zu ornamentalen Zwecken dem Menschen bereits auf der Kulturstufe der Troglodyten eigen war. Das Können dieser letzteren blieb zwar hinter demjenigen der Egypter um ein Erkleck- liches zurück, aber im Kunstwollen war der Abstand keineswegs ein unüberbrückbarer. Die Verwendung der menschlichen Figur in Rund- werk zu einem Löffel-Handgriff ist nicht wesentlich höher zu stellen, als diejenige eines Rennthiers zu ähnlichem Zwecke, namentlich wenn dies in so kunstverständiger Weise geschehen ist, wie wir es in Fig. 1 kennen gelernt haben. Man könnte aus dem Gesagten die Berechtigung ableiten, den Alt- egyptern in Bezug auf die Entwicklung der dekorativen Künste nicht ein so entschiedenes Hinausschreiten über die Kunststufe der Troglo- dyten zuzubilligen, als man es nach anscheinend so fundamentalen Leistungen wie die Schaffung von pflanzlichen Ornamenttypen, erwarten dürfte. Ein solches Urtheil wäre aber ein einseitiges; um jener Er- scheinung wirklich gerecht zu werden, muss man die Stellung der alt- egyptischen Kunst in der Kunstgeschichte überhaupt in’s Auge fassen. Da neigt sich die Wage sofort zu Gunsten der Egypter. Die egyptische Kunst hatte sich eben — die Erste soviel wir wissen — Aufgaben ge- stellt, die weit über die Befriedigung eines blossen Schmückungstriebes hinausgingen. Die Kunst der alten Egypter war im Wesent- lichen von gegenständlicher Bedeutung. Das Kunstschaffen hatte bei ihnen nicht mehr bloss den Zweck des Schmückens, seine vornehmste Bestimmung lag vielmehr darin, Empfindungen, Stimmungen, Vorstellungen Ausdruck zu geben, die mit der reinen Freude am Schönen nichts Unmittelbares gemeinsam hatten: ich verweise hiefür bloss auf die umfassende Verwendung der Kunst im egyptischen Sepulkralwesen. Wenn wir in dem Aufkommen solcher Anforderungen an das Kunst- schaffen zweifellos das Zeugniss einer höheren, vollkommeneren Kultur- stufe zu erblicken haben, so sind die Egypter, so viel wir sehen, die Ersten gewesen, denen es gelungen ist, sich zu dieser Kulturstufe empor- zuschwingen. Die künstlerischen Aufgaben, die den Egyptern aus den also ver- änderten und gesteigerten Kulturverhältnissen erwuchsen, waren so hochgespannte, die Schwierigkeiten ihrer Lösung mit Rücksicht auf das 6*

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/109>, abgerufen am 21.11.2024.