"Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik" kündigt der Titel als Inhalt dieses Buches an. Wie Mancher mag da schon bei Lesung des Umschlags misstrauisch die Achseln zucken! Giebt es denn auch eine Geschichte der Ornamentik? Es ist dies eine Frage, die selbst in unserem von historischem Forschungseifer ganz erfüllten Zeitalter eine unbedingt bejahende Antwort wenigstens bisher durchaus noch nicht gefunden hat. Man braucht dabei gar nicht an jene Radi- kalen zu denken, die überhaupt alles ornamentale Kunstschaffen für originell erklären, eine jede Erscheinung auf dem Gebiete der dekora- tiven Künste als unmittelbares Produkt aus dem jeweilig gegebenen Stoff und Zweck ansehen möchten. Neben diesen Extremsten unter den Extremen gelten schon als Vertreter einer gemässigteren Anschauung Diejenigen, die den dekorativen Künsten wenigstens soweit als die so- genannte höhere Kunst, insbesondere die Darstellung des Menschen und seiner Thaten und Leiden hineinspielt, eine historische Entwicklung von Lehrer zu Schüler, Generation zu Generation, Volk zu Volk, ein- zuräumen geneigt sind.
Allerdings giebt es und gab es seit dem ersten Aufkommen einer kunsthistorischen Forschung allezeit eine Anzahl von Leuten, die sich berechtigt glaubten, auch die bloss ornamentalen Formen in der Kunst vom Standpunkte einer stufenweisen Entwicklung, also nach den Grund- sätzen historischer Methodik zu betrachten. Es waren dies naturgemäss hauptsächlich die Buchgelehrten, die schon durch ihren Bildungsgang auf Gymnasien und Universitäten mit der philologisch-historischen Me- thodik und Betrachtungsweise erfüllt, dieselbe auch auf ornamentale Erscheinungen anwenden zu müssen vermeinten. Die Art und Weise aber, in welcher diese Anwendung historischer Methodik auf die Be-
Einleitung.
„Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik“ kündigt der Titel als Inhalt dieses Buches an. Wie Mancher mag da schon bei Lesung des Umschlags misstrauisch die Achseln zucken! Giebt es denn auch eine Geschichte der Ornamentik? Es ist dies eine Frage, die selbst in unserem von historischem Forschungseifer ganz erfüllten Zeitalter eine unbedingt bejahende Antwort wenigstens bisher durchaus noch nicht gefunden hat. Man braucht dabei gar nicht an jene Radi- kalen zu denken, die überhaupt alles ornamentale Kunstschaffen für originell erklären, eine jede Erscheinung auf dem Gebiete der dekora- tiven Künste als unmittelbares Produkt aus dem jeweilig gegebenen Stoff und Zweck ansehen möchten. Neben diesen Extremsten unter den Extremen gelten schon als Vertreter einer gemässigteren Anschauung Diejenigen, die den dekorativen Künsten wenigstens soweit als die so- genannte höhere Kunst, insbesondere die Darstellung des Menschen und seiner Thaten und Leiden hineinspielt, eine historische Entwicklung von Lehrer zu Schüler, Generation zu Generation, Volk zu Volk, ein- zuräumen geneigt sind.
Allerdings giebt es und gab es seit dem ersten Aufkommen einer kunsthistorischen Forschung allezeit eine Anzahl von Leuten, die sich berechtigt glaubten, auch die bloss ornamentalen Formen in der Kunst vom Standpunkte einer stufenweisen Entwicklung, also nach den Grund- sätzen historischer Methodik zu betrachten. Es waren dies naturgemäss hauptsächlich die Buchgelehrten, die schon durch ihren Bildungsgang auf Gymnasien und Universitäten mit der philologisch-historischen Me- thodik und Betrachtungsweise erfüllt, dieselbe auch auf ornamentale Erscheinungen anwenden zu müssen vermeinten. Die Art und Weise aber, in welcher diese Anwendung historischer Methodik auf die Be-
<TEI><text><body><pbfacs="#f0011"n="[V]"/><divn="1"><head><hirendition="#b">Einleitung.</hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>„Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik“ kündigt der<lb/>
Titel als Inhalt dieses Buches an. Wie Mancher mag da schon bei<lb/>
Lesung des Umschlags misstrauisch die Achseln zucken! Giebt es<lb/>
denn auch eine Geschichte der Ornamentik? Es ist dies eine Frage,<lb/>
die selbst in unserem von historischem Forschungseifer ganz erfüllten<lb/>
Zeitalter eine unbedingt bejahende Antwort wenigstens bisher durchaus<lb/>
noch nicht gefunden hat. Man braucht dabei gar nicht an jene Radi-<lb/>
kalen zu denken, die überhaupt alles ornamentale Kunstschaffen für<lb/>
originell erklären, eine jede Erscheinung auf dem Gebiete der dekora-<lb/>
tiven Künste als unmittelbares Produkt aus dem jeweilig gegebenen<lb/>
Stoff und Zweck ansehen möchten. Neben diesen Extremsten unter den<lb/>
Extremen gelten schon als Vertreter einer gemässigteren Anschauung<lb/>
Diejenigen, die den dekorativen Künsten wenigstens soweit als die so-<lb/>
genannte höhere Kunst, insbesondere die Darstellung des Menschen und<lb/>
seiner Thaten und Leiden hineinspielt, eine historische Entwicklung<lb/>
von Lehrer zu Schüler, Generation zu Generation, Volk zu Volk, ein-<lb/>
zuräumen geneigt sind.</p><lb/><p>Allerdings giebt es und gab es seit dem ersten Aufkommen einer<lb/>
kunsthistorischen Forschung allezeit eine Anzahl von Leuten, die sich<lb/>
berechtigt glaubten, auch die bloss ornamentalen Formen in der Kunst<lb/>
vom Standpunkte einer stufenweisen Entwicklung, also nach den Grund-<lb/>
sätzen historischer Methodik zu betrachten. Es waren dies naturgemäss<lb/>
hauptsächlich die Buchgelehrten, die schon durch ihren Bildungsgang<lb/>
auf Gymnasien und Universitäten mit der philologisch-historischen Me-<lb/>
thodik und Betrachtungsweise erfüllt, dieselbe auch auf ornamentale<lb/>
Erscheinungen anwenden zu müssen vermeinten. Die Art und Weise<lb/>
aber, in welcher diese Anwendung historischer Methodik auf die Be-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[[V]/0011]
Einleitung.
„Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik“ kündigt der
Titel als Inhalt dieses Buches an. Wie Mancher mag da schon bei
Lesung des Umschlags misstrauisch die Achseln zucken! Giebt es
denn auch eine Geschichte der Ornamentik? Es ist dies eine Frage,
die selbst in unserem von historischem Forschungseifer ganz erfüllten
Zeitalter eine unbedingt bejahende Antwort wenigstens bisher durchaus
noch nicht gefunden hat. Man braucht dabei gar nicht an jene Radi-
kalen zu denken, die überhaupt alles ornamentale Kunstschaffen für
originell erklären, eine jede Erscheinung auf dem Gebiete der dekora-
tiven Künste als unmittelbares Produkt aus dem jeweilig gegebenen
Stoff und Zweck ansehen möchten. Neben diesen Extremsten unter den
Extremen gelten schon als Vertreter einer gemässigteren Anschauung
Diejenigen, die den dekorativen Künsten wenigstens soweit als die so-
genannte höhere Kunst, insbesondere die Darstellung des Menschen und
seiner Thaten und Leiden hineinspielt, eine historische Entwicklung
von Lehrer zu Schüler, Generation zu Generation, Volk zu Volk, ein-
zuräumen geneigt sind.
Allerdings giebt es und gab es seit dem ersten Aufkommen einer
kunsthistorischen Forschung allezeit eine Anzahl von Leuten, die sich
berechtigt glaubten, auch die bloss ornamentalen Formen in der Kunst
vom Standpunkte einer stufenweisen Entwicklung, also nach den Grund-
sätzen historischer Methodik zu betrachten. Es waren dies naturgemäss
hauptsächlich die Buchgelehrten, die schon durch ihren Bildungsgang
auf Gymnasien und Universitäten mit der philologisch-historischen Me-
thodik und Betrachtungsweise erfüllt, dieselbe auch auf ornamentale
Erscheinungen anwenden zu müssen vermeinten. Die Art und Weise
aber, in welcher diese Anwendung historischer Methodik auf die Be-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. [V]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/11>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.