Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.Einleitung. trachtung der Ornamentik bisher zu geschehen pflegte, ist höchstbezeichnend für den ganz überwiegenden Einfluss, den die in erster Linie erwähnten extremeren Kreise auf die öffentliche Meinung in Dingen der ornamentalen Künste ausübten. Historische Wechselbezüge zu behaupten wagte man nur schüchtern, und bloss für eng begrenzte Zeitperioden und nahe benachbarte Gebiete. Vollends wo die unmittel- bare Bezugnahme der Ornamente auf reale Dinge der Aussenwelt, auf organische Lebewesen oder Werke von Menschenhand aufhörte, dort machte die Kühnheit der Forscher mit entschiedener Scheu ein Halt. Wo einmal die mathematische Darstellung von Symmetrie und Rhythmus in abstrakten Lineamenten, wo der Bereich des sogen. geometrischen Stils begann, dort wagte man es nicht mehr, den künstlerischen Nach- ahmungstrieb des Menschen und die ungleiche Befähigung der einzelnen Völker zum Kunstschaffen gelten zu lassen. Die Eile, mit der man je- weilig sofort versicherte, dass man ja nicht so ungebildet und naiv wäre zu glauben, dass etwa ein Volk dem anderen ein "einfaches" Mäanderband abgeguckt haben könnte, und die Entschuldigung, um die man viel- mals bat, wenn man sich herausnahm, etwa ein planimetrisch stilisirtes Pflanzenmotiv mit einem ähnlichen aus fremdem Kunstbesitz in ent- fernte Verbindung zu bringen, lehren deutlich genug, welch' siegreichen Terrorismus jene Extremen auch auf die "Historiker" unter den mit der Ornamentforschung Beflissenen ausübten. Worin liegt nun der Erklärungsgrund für diese Verhältnisse, die Einleitung. trachtung der Ornamentik bisher zu geschehen pflegte, ist höchstbezeichnend für den ganz überwiegenden Einfluss, den die in erster Linie erwähnten extremeren Kreise auf die öffentliche Meinung in Dingen der ornamentalen Künste ausübten. Historische Wechselbezüge zu behaupten wagte man nur schüchtern, und bloss für eng begrenzte Zeitperioden und nahe benachbarte Gebiete. Vollends wo die unmittel- bare Bezugnahme der Ornamente auf reale Dinge der Aussenwelt, auf organische Lebewesen oder Werke von Menschenhand aufhörte, dort machte die Kühnheit der Forscher mit entschiedener Scheu ein Halt. Wo einmal die mathematische Darstellung von Symmetrie und Rhythmus in abstrakten Lineamenten, wo der Bereich des sogen. geometrischen Stils begann, dort wagte man es nicht mehr, den künstlerischen Nach- ahmungstrieb des Menschen und die ungleiche Befähigung der einzelnen Völker zum Kunstschaffen gelten zu lassen. Die Eile, mit der man je- weilig sofort versicherte, dass man ja nicht so ungebildet und naiv wäre zu glauben, dass etwa ein Volk dem anderen ein „einfaches“ Mäanderband abgeguckt haben könnte, und die Entschuldigung, um die man viel- mals bat, wenn man sich herausnahm, etwa ein planimetrisch stilisirtes Pflanzenmotiv mit einem ähnlichen aus fremdem Kunstbesitz in ent- fernte Verbindung zu bringen, lehren deutlich genug, welch’ siegreichen Terrorismus jene Extremen auch auf die „Historiker“ unter den mit der Ornamentforschung Beflissenen ausübten. Worin liegt nun der Erklärungsgrund für diese Verhältnisse, die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0012" n="VI"/><fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/> trachtung der Ornamentik bisher zu geschehen pflegte, ist höchst<lb/> bezeichnend für den ganz überwiegenden Einfluss, den die in erster<lb/> Linie erwähnten extremeren Kreise auf die öffentliche Meinung in<lb/> Dingen der ornamentalen Künste ausübten. 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Die Eile, mit der man je-<lb/> weilig sofort versicherte, dass man ja nicht so ungebildet und naiv wäre zu<lb/> glauben, dass etwa ein Volk dem anderen ein „einfaches“ Mäanderband<lb/> abgeguckt haben könnte, und die Entschuldigung, um die man viel-<lb/> mals bat, wenn man sich herausnahm, etwa ein planimetrisch stilisirtes<lb/> Pflanzenmotiv mit einem ähnlichen aus fremdem Kunstbesitz in ent-<lb/> fernte Verbindung zu bringen, lehren deutlich genug, welch’ siegreichen<lb/> Terrorismus jene Extremen auch auf die „Historiker“ unter den mit<lb/> der Ornamentforschung Beflissenen ausübten.</p><lb/> <p>Worin liegt nun der Erklärungsgrund für diese Verhältnisse, die<lb/> in den letztverflossenen 25 Jahren einen so bestimmenden und vielfach<lb/> lähmenden Einfluss auf unsere gesammte Kunstforschung ausgeübt<lb/> haben? Er liegt vor Allem in der materialistischen Auffassung von dem<lb/> Ursprunge alles Kunstschaffens, wie sie sich seit den sechsziger Jahren<lb/> unseres Jahrhunderts herausgebildet und fast mit einem Schlage alle<lb/> kunstübenden, kunstliebenden und kunstforschenden Kreise für sich<lb/> gewonnen hat. Auf <hi rendition="#g">Gottfried Semper</hi> pflegt man die Theorie von<lb/> der technisch-materiellen Entstehung der ältesten Ornamente und Kunst-<lb/> formen überhaupt zurückzuführen. Es geschieht dies mit demselben,<lb/> oder besser gesagt, mit ebensowenig Recht, als die Identificirung des<lb/> modernen Darwinismus mit Darwin; die Parallele — Darwinismus und<lb/> Kunstmaterialismus — scheint mir um so zutreffender, als zwischen<lb/> diesen beiden Erscheinungen zweifellos ein inniger kausaler Zusammen-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [VI/0012]
Einleitung.
trachtung der Ornamentik bisher zu geschehen pflegte, ist höchst
bezeichnend für den ganz überwiegenden Einfluss, den die in erster
Linie erwähnten extremeren Kreise auf die öffentliche Meinung in
Dingen der ornamentalen Künste ausübten. Historische Wechselbezüge
zu behaupten wagte man nur schüchtern, und bloss für eng begrenzte
Zeitperioden und nahe benachbarte Gebiete. Vollends wo die unmittel-
bare Bezugnahme der Ornamente auf reale Dinge der Aussenwelt, auf
organische Lebewesen oder Werke von Menschenhand aufhörte, dort
machte die Kühnheit der Forscher mit entschiedener Scheu ein Halt.
Wo einmal die mathematische Darstellung von Symmetrie und Rhythmus
in abstrakten Lineamenten, wo der Bereich des sogen. geometrischen
Stils begann, dort wagte man es nicht mehr, den künstlerischen Nach-
ahmungstrieb des Menschen und die ungleiche Befähigung der einzelnen
Völker zum Kunstschaffen gelten zu lassen. Die Eile, mit der man je-
weilig sofort versicherte, dass man ja nicht so ungebildet und naiv wäre zu
glauben, dass etwa ein Volk dem anderen ein „einfaches“ Mäanderband
abgeguckt haben könnte, und die Entschuldigung, um die man viel-
mals bat, wenn man sich herausnahm, etwa ein planimetrisch stilisirtes
Pflanzenmotiv mit einem ähnlichen aus fremdem Kunstbesitz in ent-
fernte Verbindung zu bringen, lehren deutlich genug, welch’ siegreichen
Terrorismus jene Extremen auch auf die „Historiker“ unter den mit
der Ornamentforschung Beflissenen ausübten.
Worin liegt nun der Erklärungsgrund für diese Verhältnisse, die
in den letztverflossenen 25 Jahren einen so bestimmenden und vielfach
lähmenden Einfluss auf unsere gesammte Kunstforschung ausgeübt
haben? Er liegt vor Allem in der materialistischen Auffassung von dem
Ursprunge alles Kunstschaffens, wie sie sich seit den sechsziger Jahren
unseres Jahrhunderts herausgebildet und fast mit einem Schlage alle
kunstübenden, kunstliebenden und kunstforschenden Kreise für sich
gewonnen hat. Auf Gottfried Semper pflegt man die Theorie von
der technisch-materiellen Entstehung der ältesten Ornamente und Kunst-
formen überhaupt zurückzuführen. Es geschieht dies mit demselben,
oder besser gesagt, mit ebensowenig Recht, als die Identificirung des
modernen Darwinismus mit Darwin; die Parallele — Darwinismus und
Kunstmaterialismus — scheint mir um so zutreffender, als zwischen
diesen beiden Erscheinungen zweifellos ein inniger kausaler Zusammen-
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