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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
-- wie wir gesehen haben -- das Verhältniss der mykenischen zur
egyptischen Pflanzenornamentik überhaupt kennzeichnet.

Zweifellos enthält aber die mykenische Ornamentik auch
eine Reihe von Motiven, deren Ursprung wir aus der egyp-
tischen Kunst abzuleiten nicht im Stande sind
, und die wir
daher, vorläufig wenigstens, als Originalschöpfungen dieser Kunst an-
sehen müssen. Vor Allem sind dies Motive animalischer Natur, was ja
um so begreiflicher erscheinen wird, wenn wir uns erinnern, dass der
Mensch allenthalben32) am frühesten die Lebewesen aus seiner Um-
gebung, sei es plastisch, sei es zeichnerisch, auf einer Fläche nachzu-
bilden versucht hat. Den küsten- und inselbewohnenden "Mykenäern"
wird der essbare, vielleicht einen Hauptbestandtheil ihrer Nahrung ge-
bildet habende Tintenfisch oder der Polyp33) näher gestanden sein als
etwa der Ibis oder die Brillenschlange. Der Tintenfisch ist denn auch
dasjenige -- und zwar das einzige -- Motiv, dessen Originalität Good-
year (S. 311) den Trägern der mykenischen Kunst zugesteht; er ver-
weist hiebei auch recht überzeugend auf die Bedeutung, die dieses See-
thier noch heute für die Bevölkerung der Levante besitzt. Selbständige
Entstehung mag man ferner den Schmetterlingen34) einräumen, deren
Stilisirung (Kopf und Fühler) sich als ein gemeinsames Produkt egyp-
tischer und mykenischer Weise darstellt. Aber auch ein anscheinend
vegetabilisches Motiv finden wir in der mykenischen Kunst (Fig. 58)35),
wofür es wohl recht schwer fallen dürfte ein egyptisches Vorbild bei-
zubringen, dem vielmehr ein naturalistischer Charakter innezuwohnen
scheint. Die Projektion stellt sich dar in halber Vollansicht, hat aber
mit der egyptischen Palmette augenscheinlich nichts zu thun. In der
Akanthus-Palmette werden wir eine verwandte Bildung kennen lernen;
für die Herstellung eines beiderseitigen Zusammenhangs fehlen aber
alle Zwischenglieder. Es gewinnt somit den Anschein, dass dieses
pflanzliche Motiv, ebenso wie der Tintenfisch und der Schmetterling, im

32) Wie die Troglodyten in der Dordogne, vgl. S. 21.
33) Der Polyp auf assyrischen Reliefs (Layard, Monuments I. 71) hat
gewiss auch selbständige gegenständliche Bedeutung und weder mit dem
mykenischen Polypen noch mit etwaigen egyptischen Vorbildern kunstgeschicht-
lich irgend etwas zu thun.
34) Schliemann, Mykenä Fig. 243; von Insekten haben die Egypter die
Heuschrecke zur Darstellung gebracht: Prisse d'A., Ornementation des plafonds
bucranes unten.
35) Goldblättchen bei Schliemann, Mykenä Fig. 249, dann Fig. 247,
248, 250.

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
— wie wir gesehen haben — das Verhältniss der mykenischen zur
egyptischen Pflanzenornamentik überhaupt kennzeichnet.

Zweifellos enthält aber die mykenische Ornamentik auch
eine Reihe von Motiven, deren Ursprung wir aus der egyp-
tischen Kunst abzuleiten nicht im Stande sind
, und die wir
daher, vorläufig wenigstens, als Originalschöpfungen dieser Kunst an-
sehen müssen. Vor Allem sind dies Motive animalischer Natur, was ja
um so begreiflicher erscheinen wird, wenn wir uns erinnern, dass der
Mensch allenthalben32) am frühesten die Lebewesen aus seiner Um-
gebung, sei es plastisch, sei es zeichnerisch, auf einer Fläche nachzu-
bilden versucht hat. Den küsten- und inselbewohnenden „Mykenäern“
wird der essbare, vielleicht einen Hauptbestandtheil ihrer Nahrung ge-
bildet habende Tintenfisch oder der Polyp33) näher gestanden sein als
etwa der Ibis oder die Brillenschlange. Der Tintenfisch ist denn auch
dasjenige — und zwar das einzige — Motiv, dessen Originalität Good-
year (S. 311) den Trägern der mykenischen Kunst zugesteht; er ver-
weist hiebei auch recht überzeugend auf die Bedeutung, die dieses See-
thier noch heute für die Bevölkerung der Levante besitzt. Selbständige
Entstehung mag man ferner den Schmetterlingen34) einräumen, deren
Stilisirung (Kopf und Fühler) sich als ein gemeinsames Produkt egyp-
tischer und mykenischer Weise darstellt. Aber auch ein anscheinend
vegetabilisches Motiv finden wir in der mykenischen Kunst (Fig. 58)35),
wofür es wohl recht schwer fallen dürfte ein egyptisches Vorbild bei-
zubringen, dem vielmehr ein naturalistischer Charakter innezuwohnen
scheint. Die Projektion stellt sich dar in halber Vollansicht, hat aber
mit der egyptischen Palmette augenscheinlich nichts zu thun. In der
Akanthus-Palmette werden wir eine verwandte Bildung kennen lernen;
für die Herstellung eines beiderseitigen Zusammenhangs fehlen aber
alle Zwischenglieder. Es gewinnt somit den Anschein, dass dieses
pflanzliche Motiv, ebenso wie der Tintenfisch und der Schmetterling, im

32) Wie die Troglodyten in der Dordogne, vgl. S. 21.
33) Der Polyp auf assyrischen Reliefs (Layard, Monuments I. 71) hat
gewiss auch selbständige gegenständliche Bedeutung und weder mit dem
mykenischen Polypen noch mit etwaigen egyptischen Vorbildern kunstgeschicht-
lich irgend etwas zu thun.
34) Schliemann, Mykenä Fig. 243; von Insekten haben die Egypter die
Heuschrecke zur Darstellung gebracht: Prisse d’A., Ornementation des plafonds
bucrânes unten.
35) Goldblättchen bei Schliemann, Mykenä Fig. 249, dann Fig. 247,
248, 250.
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[134/0160] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. — wie wir gesehen haben — das Verhältniss der mykenischen zur egyptischen Pflanzenornamentik überhaupt kennzeichnet. Zweifellos enthält aber die mykenische Ornamentik auch eine Reihe von Motiven, deren Ursprung wir aus der egyp- tischen Kunst abzuleiten nicht im Stande sind, und die wir daher, vorläufig wenigstens, als Originalschöpfungen dieser Kunst an- sehen müssen. Vor Allem sind dies Motive animalischer Natur, was ja um so begreiflicher erscheinen wird, wenn wir uns erinnern, dass der Mensch allenthalben 32) am frühesten die Lebewesen aus seiner Um- gebung, sei es plastisch, sei es zeichnerisch, auf einer Fläche nachzu- bilden versucht hat. Den küsten- und inselbewohnenden „Mykenäern“ wird der essbare, vielleicht einen Hauptbestandtheil ihrer Nahrung ge- bildet habende Tintenfisch oder der Polyp 33) näher gestanden sein als etwa der Ibis oder die Brillenschlange. Der Tintenfisch ist denn auch dasjenige — und zwar das einzige — Motiv, dessen Originalität Good- year (S. 311) den Trägern der mykenischen Kunst zugesteht; er ver- weist hiebei auch recht überzeugend auf die Bedeutung, die dieses See- thier noch heute für die Bevölkerung der Levante besitzt. Selbständige Entstehung mag man ferner den Schmetterlingen 34) einräumen, deren Stilisirung (Kopf und Fühler) sich als ein gemeinsames Produkt egyp- tischer und mykenischer Weise darstellt. Aber auch ein anscheinend vegetabilisches Motiv finden wir in der mykenischen Kunst (Fig. 58) 35), wofür es wohl recht schwer fallen dürfte ein egyptisches Vorbild bei- zubringen, dem vielmehr ein naturalistischer Charakter innezuwohnen scheint. Die Projektion stellt sich dar in halber Vollansicht, hat aber mit der egyptischen Palmette augenscheinlich nichts zu thun. In der Akanthus-Palmette werden wir eine verwandte Bildung kennen lernen; für die Herstellung eines beiderseitigen Zusammenhangs fehlen aber alle Zwischenglieder. Es gewinnt somit den Anschein, dass dieses pflanzliche Motiv, ebenso wie der Tintenfisch und der Schmetterling, im 32) Wie die Troglodyten in der Dordogne, vgl. S. 21. 33) Der Polyp auf assyrischen Reliefs (Layard, Monuments I. 71) hat gewiss auch selbständige gegenständliche Bedeutung und weder mit dem mykenischen Polypen noch mit etwaigen egyptischen Vorbildern kunstgeschicht- lich irgend etwas zu thun. 34) Schliemann, Mykenä Fig. 243; von Insekten haben die Egypter die Heuschrecke zur Darstellung gebracht: Prisse d’A., Ornementation des plafonds bucrânes unten. 35) Goldblättchen bei Schliemann, Mykenä Fig. 249, dann Fig. 247, 248, 250.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/160>, abgerufen am 21.11.2024.