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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
bei der früheren Besprechung dieses überaus aufschlussgebenden Denk-
mals mykenischer Dekorationskunst wurde der überraschende Eindruck
hervorgehoben, den die streng durchgeführte Scheidung zwischen
Innenfeld und Bordüre
auf den Beschauer ausübt. Die Grund-
tendenz, die zu dieser Scheidung getrieben hat und welcher sämmtliche
an der Entwicklung der Kunstgeschichte betheiligten Mittelmeervölker
nachgestrebt haben, wurde schon auf S. 87 gekennzeichnet. Das Ziel
konnte natürlich nur schrittweise erreicht werden; wie weit die Egypter
davon noch entfernt waren, wurde gleichfalls bereits in ausführlicher
Weise dargethan. Erst in der assyrischen Kunst konnten wir ein durch-
gängiges, anscheinend bewusst durchgeführtes System von Füllung und
Rahmen, Innenfeld und Bordüre wahrnehmen. In diesem Lichte be-
trachtet stellt sich das der Decke von Orchomenos zu Grunde liegende
dekorative Grundschema dar als ein Fortschritt gegenüber der sonst
vorbildlichen egyptischen Kunstweise und als auf einer Linie stehend
etwa mit der Steinschwelle von Ninive (Fig. 34), mit welcher sie sogar
unmittelbare Berührungspunkte (die Rosetten zur Besäumung von Innen-
feld und Bordüre) gemein hat. Der Zeit nach ist aber die Decke von
Orchomenos den bezüglichen assyrischen Denkmälern entschieden voraus.
Abgesehen von jener aus der verhältnissmässig späten Zeit der Sar-
goniden stammenden Steinschwelle sind die ältesten bekannt gewor-
denen Denkmäler aus den assyrischen Königspalästen nicht vor dem
Jahre Eintausend v. Ch. entstanden, während man die Blüthe der my-
kenischen Kultur in das 16. bis 12. Jahrhundert v. Ch. verlegen will.
Noch weniger können die phönikischen Kunstwerke, die gleichfalls die
Trennung zwischen struktiver Umrahmung und neutraler Füllung
ziemlich streng durchgeführt zeigen, als vorbildlich für die mykenischen
Künste angesehen werden, denn nach dem auf S. 108 Gesagten werden
wir die Entstehung der phönikischen Metallschalen u. dgl. auch nicht
viel früher als in die Zeit der Sargoniden zu setzen haben. Ist aber
die mykenische Kultur thatsächlich gleichzeitig mit der Herrschaft der
Ramessiden gewesen, aus deren Zeit uns die bei Prisse d'A. abgebil-
deten egyptischen Wandmalereien mit ihrer vielfach unvollkommenen
und tastenden Durchführung der Bordürenumrahmung erhalten sind,
so wird man zu dem Schlusse geführt, dass die Mykenäer so wie in
dem Einzelmotiv der freibewegten Pflanzenranke auch in dem allge-
meinen Schema der dekorativen Raumtheilung und Flächenbrechung
wesentlich über die Errungenschaften der Egypter hinaus- und den
späteren entscheidenden Thaten der Griechen entgegengekommen sind.


B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
bei der früheren Besprechung dieses überaus aufschlussgebenden Denk-
mals mykenischer Dekorationskunst wurde der überraschende Eindruck
hervorgehoben, den die streng durchgeführte Scheidung zwischen
Innenfeld und Bordüre
auf den Beschauer ausübt. Die Grund-
tendenz, die zu dieser Scheidung getrieben hat und welcher sämmtliche
an der Entwicklung der Kunstgeschichte betheiligten Mittelmeervölker
nachgestrebt haben, wurde schon auf S. 87 gekennzeichnet. Das Ziel
konnte natürlich nur schrittweise erreicht werden; wie weit die Egypter
davon noch entfernt waren, wurde gleichfalls bereits in ausführlicher
Weise dargethan. Erst in der assyrischen Kunst konnten wir ein durch-
gängiges, anscheinend bewusst durchgeführtes System von Füllung und
Rahmen, Innenfeld und Bordüre wahrnehmen. In diesem Lichte be-
trachtet stellt sich das der Decke von Orchomenos zu Grunde liegende
dekorative Grundschema dar als ein Fortschritt gegenüber der sonst
vorbildlichen egyptischen Kunstweise und als auf einer Linie stehend
etwa mit der Steinschwelle von Ninive (Fig. 34), mit welcher sie sogar
unmittelbare Berührungspunkte (die Rosetten zur Besäumung von Innen-
feld und Bordüre) gemein hat. Der Zeit nach ist aber die Decke von
Orchomenos den bezüglichen assyrischen Denkmälern entschieden voraus.
Abgesehen von jener aus der verhältnissmässig späten Zeit der Sar-
goniden stammenden Steinschwelle sind die ältesten bekannt gewor-
denen Denkmäler aus den assyrischen Königspalästen nicht vor dem
Jahre Eintausend v. Ch. entstanden, während man die Blüthe der my-
kenischen Kultur in das 16. bis 12. Jahrhundert v. Ch. verlegen will.
Noch weniger können die phönikischen Kunstwerke, die gleichfalls die
Trennung zwischen struktiver Umrahmung und neutraler Füllung
ziemlich streng durchgeführt zeigen, als vorbildlich für die mykenischen
Künste angesehen werden, denn nach dem auf S. 108 Gesagten werden
wir die Entstehung der phönikischen Metallschalen u. dgl. auch nicht
viel früher als in die Zeit der Sargoniden zu setzen haben. Ist aber
die mykenische Kultur thatsächlich gleichzeitig mit der Herrschaft der
Ramessiden gewesen, aus deren Zeit uns die bei Prisse d’A. abgebil-
deten egyptischen Wandmalereien mit ihrer vielfach unvollkommenen
und tastenden Durchführung der Bordürenumrahmung erhalten sind,
so wird man zu dem Schlusse geführt, dass die Mykenäer so wie in
dem Einzelmotiv der freibewegten Pflanzenranke auch in dem allge-
meinen Schema der dekorativen Raumtheilung und Flächenbrechung
wesentlich über die Errungenschaften der Egypter hinaus- und den
späteren entscheidenden Thaten der Griechen entgegengekommen sind.


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[146/0172] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. bei der früheren Besprechung dieses überaus aufschlussgebenden Denk- mals mykenischer Dekorationskunst wurde der überraschende Eindruck hervorgehoben, den die streng durchgeführte Scheidung zwischen Innenfeld und Bordüre auf den Beschauer ausübt. Die Grund- tendenz, die zu dieser Scheidung getrieben hat und welcher sämmtliche an der Entwicklung der Kunstgeschichte betheiligten Mittelmeervölker nachgestrebt haben, wurde schon auf S. 87 gekennzeichnet. Das Ziel konnte natürlich nur schrittweise erreicht werden; wie weit die Egypter davon noch entfernt waren, wurde gleichfalls bereits in ausführlicher Weise dargethan. Erst in der assyrischen Kunst konnten wir ein durch- gängiges, anscheinend bewusst durchgeführtes System von Füllung und Rahmen, Innenfeld und Bordüre wahrnehmen. In diesem Lichte be- trachtet stellt sich das der Decke von Orchomenos zu Grunde liegende dekorative Grundschema dar als ein Fortschritt gegenüber der sonst vorbildlichen egyptischen Kunstweise und als auf einer Linie stehend etwa mit der Steinschwelle von Ninive (Fig. 34), mit welcher sie sogar unmittelbare Berührungspunkte (die Rosetten zur Besäumung von Innen- feld und Bordüre) gemein hat. Der Zeit nach ist aber die Decke von Orchomenos den bezüglichen assyrischen Denkmälern entschieden voraus. Abgesehen von jener aus der verhältnissmässig späten Zeit der Sar- goniden stammenden Steinschwelle sind die ältesten bekannt gewor- denen Denkmäler aus den assyrischen Königspalästen nicht vor dem Jahre Eintausend v. Ch. entstanden, während man die Blüthe der my- kenischen Kultur in das 16. bis 12. Jahrhundert v. Ch. verlegen will. Noch weniger können die phönikischen Kunstwerke, die gleichfalls die Trennung zwischen struktiver Umrahmung und neutraler Füllung ziemlich streng durchgeführt zeigen, als vorbildlich für die mykenischen Künste angesehen werden, denn nach dem auf S. 108 Gesagten werden wir die Entstehung der phönikischen Metallschalen u. dgl. auch nicht viel früher als in die Zeit der Sargoniden zu setzen haben. Ist aber die mykenische Kultur thatsächlich gleichzeitig mit der Herrschaft der Ramessiden gewesen, aus deren Zeit uns die bei Prisse d’A. abgebil- deten egyptischen Wandmalereien mit ihrer vielfach unvollkommenen und tastenden Durchführung der Bordürenumrahmung erhalten sind, so wird man zu dem Schlusse geführt, dass die Mykenäer so wie in dem Einzelmotiv der freibewegten Pflanzenranke auch in dem allge- meinen Schema der dekorativen Raumtheilung und Flächenbrechung wesentlich über die Errungenschaften der Egypter hinaus- und den späteren entscheidenden Thaten der Griechen entgegengekommen sind.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/172>, abgerufen am 21.11.2024.