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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Mykenisches.
asiatischen, die ihr unmittelbares Vorbild gewesen ist, aus geraden,
aus dem Kelche herausstarrenden Strahlen besteht, während der Fächer
an den mykenischen Beispielen im Halbkreis gefiedert erscheint51). Die
Verwendung der freibewegten Ranke mit selbständig angesetzten Blüthen
zum Zwecke der Flächenfüllung, anstatt der starren egyptischen Spiral-
bänder mit bloss zwickelfüllenden Blüthen, ist -- wie wir im weiteren
Verlaufe sehen werden -- eine wesentliche, klassische Errungenschaft
der reifen griechischen Kunst
gewesen. Ich stehe nicht an, Fig. 64
und 65 als Vorläufer dieser Entwicklung zu betrachten, Vorläufer,
für welche auf altorientalischem Boden ebensowenig ein
Vorbild vorhanden war wie für die Wellenranke und die ge-
sammte freie Rankenornamentik überhaupt
.

Die Einführung der lebendigen Pflanzenranke in die Ornamentik
stellt sich somit als ein wesentlicher Fortschritt dar, den die mykenische
Kunst an die ihr dem Alter nach überlegene egyptische geknüpft hat.
Der Fortschritt nach dieser Richtung war zugleich ein bleibender, wie
wir sehen werden, was deshalb besonders zu betonen ist, weil die
meisten sonstigen Eigenthümlichkeiten der mykenischen Ornamentik,
die Band- und Spiralmuster, die Tintenfische und Schmetterlinge der
späteren griechischen Kunst fehlen, und auch die Entwicklung der
Blüthenformen nicht an die mykenischen Umbildungen der egyptischen
Typen, sondern neuerdings an original-orientalische Typen geknüpft
hat. Die mykenischen Rankenornamente bilden dagegen, wie gesagt,
eine dauernde Errungenschaft. Von diesem Gesichtspunkte aus lässt
sich auch manches Andere besser begreifen, was uns an der mykeni-
schen, scheinbar primitiven Kunst überraschend Vorgeschrittenes und
Vollkommenes begegnet. Wenn diese Punkte auch nicht die Pflanzen-
ornamentik im Besonderen betreffen, so hilft doch das Eine das Andere
aufzuklären, und deshalb wollen wir die Betrachtung der mykenischen
Kunst nach der angedeuteten Seite hin noch weiter verfolgen.

Solchen Zeugnissen einer vorgeschrittenen Entwicklung begegnen
wir innerhalb der mykenischen Kunst sowohl auf dem Gebiete des
rein Dekorativen als auf demjenigen der figürlichen Darstellungen.

In Bezug auf die Dekoration im Allgemeinen ist einmal zu-
rückzuweisen auf die skulpirte Decke von Orchomenos (Fig. 55). Schon

51) Man vgl. aber damit die leider nicht scharf genug gezeichneten
Doppelspiralen in der Bordüre einer der Grabstelen, bei Schliemann, Mykenä
Fig. 24. Die Zwickel der Spiralen erscheinen da mit Halbpalmetten von fast
saracenisch-abstraktem Charakter gefüllt.
Riegl, Stilfragen. 10

1. Mykenisches.
asiatischen, die ihr unmittelbares Vorbild gewesen ist, aus geraden,
aus dem Kelche herausstarrenden Strahlen besteht, während der Fächer
an den mykenischen Beispielen im Halbkreis gefiedert erscheint51). Die
Verwendung der freibewegten Ranke mit selbständig angesetzten Blüthen
zum Zwecke der Flächenfüllung, anstatt der starren egyptischen Spiral-
bänder mit bloss zwickelfüllenden Blüthen, ist — wie wir im weiteren
Verlaufe sehen werden — eine wesentliche, klassische Errungenschaft
der reifen griechischen Kunst
gewesen. Ich stehe nicht an, Fig. 64
und 65 als Vorläufer dieser Entwicklung zu betrachten, Vorläufer,
für welche auf altorientalischem Boden ebensowenig ein
Vorbild vorhanden war wie für die Wellenranke und die ge-
sammte freie Rankenornamentik überhaupt
.

Die Einführung der lebendigen Pflanzenranke in die Ornamentik
stellt sich somit als ein wesentlicher Fortschritt dar, den die mykenische
Kunst an die ihr dem Alter nach überlegene egyptische geknüpft hat.
Der Fortschritt nach dieser Richtung war zugleich ein bleibender, wie
wir sehen werden, was deshalb besonders zu betonen ist, weil die
meisten sonstigen Eigenthümlichkeiten der mykenischen Ornamentik,
die Band- und Spiralmuster, die Tintenfische und Schmetterlinge der
späteren griechischen Kunst fehlen, und auch die Entwicklung der
Blüthenformen nicht an die mykenischen Umbildungen der egyptischen
Typen, sondern neuerdings an original-orientalische Typen geknüpft
hat. Die mykenischen Rankenornamente bilden dagegen, wie gesagt,
eine dauernde Errungenschaft. Von diesem Gesichtspunkte aus lässt
sich auch manches Andere besser begreifen, was uns an der mykeni-
schen, scheinbar primitiven Kunst überraschend Vorgeschrittenes und
Vollkommenes begegnet. Wenn diese Punkte auch nicht die Pflanzen-
ornamentik im Besonderen betreffen, so hilft doch das Eine das Andere
aufzuklären, und deshalb wollen wir die Betrachtung der mykenischen
Kunst nach der angedeuteten Seite hin noch weiter verfolgen.

Solchen Zeugnissen einer vorgeschrittenen Entwicklung begegnen
wir innerhalb der mykenischen Kunst sowohl auf dem Gebiete des
rein Dekorativen als auf demjenigen der figürlichen Darstellungen.

In Bezug auf die Dekoration im Allgemeinen ist einmal zu-
rückzuweisen auf die skulpirte Decke von Orchomenos (Fig. 55). Schon

51) Man vgl. aber damit die leider nicht scharf genug gezeichneten
Doppelspiralen in der Bordüre einer der Grabstelen, bei Schliemann, Mykenä
Fig. 24. Die Zwickel der Spiralen erscheinen da mit Halbpalmetten von fast
saracenisch-abstraktem Charakter gefüllt.
Riegl, Stilfragen. 10
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[145/0171] 1. Mykenisches. asiatischen, die ihr unmittelbares Vorbild gewesen ist, aus geraden, aus dem Kelche herausstarrenden Strahlen besteht, während der Fächer an den mykenischen Beispielen im Halbkreis gefiedert erscheint 51). Die Verwendung der freibewegten Ranke mit selbständig angesetzten Blüthen zum Zwecke der Flächenfüllung, anstatt der starren egyptischen Spiral- bänder mit bloss zwickelfüllenden Blüthen, ist — wie wir im weiteren Verlaufe sehen werden — eine wesentliche, klassische Errungenschaft der reifen griechischen Kunst gewesen. Ich stehe nicht an, Fig. 64 und 65 als Vorläufer dieser Entwicklung zu betrachten, Vorläufer, für welche auf altorientalischem Boden ebensowenig ein Vorbild vorhanden war wie für die Wellenranke und die ge- sammte freie Rankenornamentik überhaupt. Die Einführung der lebendigen Pflanzenranke in die Ornamentik stellt sich somit als ein wesentlicher Fortschritt dar, den die mykenische Kunst an die ihr dem Alter nach überlegene egyptische geknüpft hat. Der Fortschritt nach dieser Richtung war zugleich ein bleibender, wie wir sehen werden, was deshalb besonders zu betonen ist, weil die meisten sonstigen Eigenthümlichkeiten der mykenischen Ornamentik, die Band- und Spiralmuster, die Tintenfische und Schmetterlinge der späteren griechischen Kunst fehlen, und auch die Entwicklung der Blüthenformen nicht an die mykenischen Umbildungen der egyptischen Typen, sondern neuerdings an original-orientalische Typen geknüpft hat. Die mykenischen Rankenornamente bilden dagegen, wie gesagt, eine dauernde Errungenschaft. Von diesem Gesichtspunkte aus lässt sich auch manches Andere besser begreifen, was uns an der mykeni- schen, scheinbar primitiven Kunst überraschend Vorgeschrittenes und Vollkommenes begegnet. Wenn diese Punkte auch nicht die Pflanzen- ornamentik im Besonderen betreffen, so hilft doch das Eine das Andere aufzuklären, und deshalb wollen wir die Betrachtung der mykenischen Kunst nach der angedeuteten Seite hin noch weiter verfolgen. Solchen Zeugnissen einer vorgeschrittenen Entwicklung begegnen wir innerhalb der mykenischen Kunst sowohl auf dem Gebiete des rein Dekorativen als auf demjenigen der figürlichen Darstellungen. In Bezug auf die Dekoration im Allgemeinen ist einmal zu- rückzuweisen auf die skulpirte Decke von Orchomenos (Fig. 55). Schon 51) Man vgl. aber damit die leider nicht scharf genug gezeichneten Doppelspiralen in der Bordüre einer der Grabstelen, bei Schliemann, Mykenä Fig. 24. Die Zwickel der Spiralen erscheinen da mit Halbpalmetten von fast saracenisch-abstraktem Charakter gefüllt. Riegl, Stilfragen. 10

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/171>, abgerufen am 26.05.2024.