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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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6. Das Rankengeschlinge.
geschlinge hat nichts von beiden, sondern ist eine nach rein dekorativen
Grundsätzen erfolgte Verschlingung von gefällig geschwungenen Linien.
Die assyrischen Palmetten sind überdies, wie wir gesehen haben, nicht
bloss anders im Detail gestaltet, sondern am heiligen Baum auch selb-
ständige Ansätze, etwa gleich Früchten, an Fig. 88 dagegen grössten-
theils offenbare Zwickelfüllungen. Noch weniger lässt sich der phöni-
kische Palmettenbaum in Parallele setzen, der eine Ineinanderschachte-
lung von Kelchen in der vertikalen Richtung des Baumwuchses dar-
stellt, wogegen an Fig. 88 jede Betonung einer bestimmten Richtung
vermieden ist.

Eher liessen sich Analogien für das Geschlinge auf egyptischem
Boden finden. Es sind dies die bei Prisse d'Avennes abgebildeten Plafonds
(Fig. 27); das grundlegende Muster bilden schmale Bänder und Schnüre,
die sich zumeist spiralig einrollen, aber auch vielfach verschlingen.
Daneben spielt das zwickelfüllende Lotusblumenornament die ent-
scheidende Rolle. Unmittelbare Parallelen zu dem chalkidischen
Muster sind zwar keineswegs nachzuweisen; die Möglichkeit will ich
übrigens nicht schlankweg bestreiten, dass diese egyptischen Plafond-
malereien im Allgemeinen auf die Schaffung des chalkidischen Musters
von Einfluss gewesen sein könnten1). Der Geist aber, in dem es
durchgeführt erscheint, ist griechisch, die Ranke ist griechisch, die
Blüthenmotive sind gräcisirt.

Das in Rede stehende Muster wurde bisher stets als chalkidisch
bezeichnet; in der That hat es über diese Vasenklasse hinausgegriffen.
Fig. 88 bezeichnet nur den Typus; das Muster wurde aber vielfach
variirt. Ja man hat es sogar mittels Reihung zur Musterung von Bordüre-
streifen herangezogen, wie z. B. an dem "protokorinthischen" Salbgefäss
Arch. Zeit. 1883 Taf. X. I, allerdings in weniger glücklicher Weise. Es
war eben eine lebhaft aufstrebende Zeit, die sich in den verschieden-
sten Combinationen versuchte.

Die geschichtliche Bedeutung des chalkidischen Ranken-
geschlinges beruht darin, dass hier die Ranke zum ersten Male
verwendet erscheint, um der Füllung einer neutralen Fläche
zum Grundmuster zu dienen
. Im mykenischen Stil geschah dies bloss
mit der Spirale; die Ranken waren beschränkt auf Bordürestreifen.
Die Vorstufen des Gebrauches von Fig. 88 begegneten uns auf meli-

1) Dies könnte auch von den durchgeschlungenen Bändern in Fig. 83
und 84 gelten, da dieselben nicht zum intermittirenden Grundschema gehören.

6. Das Rankengeschlinge.
geschlinge hat nichts von beiden, sondern ist eine nach rein dekorativen
Grundsätzen erfolgte Verschlingung von gefällig geschwungenen Linien.
Die assyrischen Palmetten sind überdies, wie wir gesehen haben, nicht
bloss anders im Detail gestaltet, sondern am heiligen Baum auch selb-
ständige Ansätze, etwa gleich Früchten, an Fig. 88 dagegen grössten-
theils offenbare Zwickelfüllungen. Noch weniger lässt sich der phöni-
kische Palmettenbaum in Parallele setzen, der eine Ineinanderschachte-
lung von Kelchen in der vertikalen Richtung des Baumwuchses dar-
stellt, wogegen an Fig. 88 jede Betonung einer bestimmten Richtung
vermieden ist.

Eher liessen sich Analogien für das Geschlinge auf egyptischem
Boden finden. Es sind dies die bei Prisse d’Avennes abgebildeten Plafonds
(Fig. 27); das grundlegende Muster bilden schmale Bänder und Schnüre,
die sich zumeist spiralig einrollen, aber auch vielfach verschlingen.
Daneben spielt das zwickelfüllende Lotusblumenornament die ent-
scheidende Rolle. Unmittelbare Parallelen zu dem chalkidischen
Muster sind zwar keineswegs nachzuweisen; die Möglichkeit will ich
übrigens nicht schlankweg bestreiten, dass diese egyptischen Plafond-
malereien im Allgemeinen auf die Schaffung des chalkidischen Musters
von Einfluss gewesen sein könnten1). Der Geist aber, in dem es
durchgeführt erscheint, ist griechisch, die Ranke ist griechisch, die
Blüthenmotive sind gräcisirt.

Das in Rede stehende Muster wurde bisher stets als chalkidisch
bezeichnet; in der That hat es über diese Vasenklasse hinausgegriffen.
Fig. 88 bezeichnet nur den Typus; das Muster wurde aber vielfach
variirt. Ja man hat es sogar mittels Reihung zur Musterung von Bordüre-
streifen herangezogen, wie z. B. an dem „protokorinthischen“ Salbgefäss
Arch. Zeit. 1883 Taf. X. I, allerdings in weniger glücklicher Weise. Es
war eben eine lebhaft aufstrebende Zeit, die sich in den verschieden-
sten Combinationen versuchte.

Die geschichtliche Bedeutung des chalkidischen Ranken-
geschlinges beruht darin, dass hier die Ranke zum ersten Male
verwendet erscheint, um der Füllung einer neutralen Fläche
zum Grundmuster zu dienen
. Im mykenischen Stil geschah dies bloss
mit der Spirale; die Ranken waren beschränkt auf Bordürestreifen.
Die Vorstufen des Gebrauches von Fig. 88 begegneten uns auf meli-

1) Dies könnte auch von den durchgeschlungenen Bändern in Fig. 83
und 84 gelten, da dieselben nicht zum intermittirenden Grundschema gehören.
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[189/0215] 6. Das Rankengeschlinge. geschlinge hat nichts von beiden, sondern ist eine nach rein dekorativen Grundsätzen erfolgte Verschlingung von gefällig geschwungenen Linien. Die assyrischen Palmetten sind überdies, wie wir gesehen haben, nicht bloss anders im Detail gestaltet, sondern am heiligen Baum auch selb- ständige Ansätze, etwa gleich Früchten, an Fig. 88 dagegen grössten- theils offenbare Zwickelfüllungen. Noch weniger lässt sich der phöni- kische Palmettenbaum in Parallele setzen, der eine Ineinanderschachte- lung von Kelchen in der vertikalen Richtung des Baumwuchses dar- stellt, wogegen an Fig. 88 jede Betonung einer bestimmten Richtung vermieden ist. Eher liessen sich Analogien für das Geschlinge auf egyptischem Boden finden. Es sind dies die bei Prisse d’Avennes abgebildeten Plafonds (Fig. 27); das grundlegende Muster bilden schmale Bänder und Schnüre, die sich zumeist spiralig einrollen, aber auch vielfach verschlingen. Daneben spielt das zwickelfüllende Lotusblumenornament die ent- scheidende Rolle. Unmittelbare Parallelen zu dem chalkidischen Muster sind zwar keineswegs nachzuweisen; die Möglichkeit will ich übrigens nicht schlankweg bestreiten, dass diese egyptischen Plafond- malereien im Allgemeinen auf die Schaffung des chalkidischen Musters von Einfluss gewesen sein könnten 1). Der Geist aber, in dem es durchgeführt erscheint, ist griechisch, die Ranke ist griechisch, die Blüthenmotive sind gräcisirt. Das in Rede stehende Muster wurde bisher stets als chalkidisch bezeichnet; in der That hat es über diese Vasenklasse hinausgegriffen. Fig. 88 bezeichnet nur den Typus; das Muster wurde aber vielfach variirt. Ja man hat es sogar mittels Reihung zur Musterung von Bordüre- streifen herangezogen, wie z. B. an dem „protokorinthischen“ Salbgefäss Arch. Zeit. 1883 Taf. X. I, allerdings in weniger glücklicher Weise. Es war eben eine lebhaft aufstrebende Zeit, die sich in den verschieden- sten Combinationen versuchte. Die geschichtliche Bedeutung des chalkidischen Ranken- geschlinges beruht darin, dass hier die Ranke zum ersten Male verwendet erscheint, um der Füllung einer neutralen Fläche zum Grundmuster zu dienen. Im mykenischen Stil geschah dies bloss mit der Spirale; die Ranken waren beschränkt auf Bordürestreifen. Die Vorstufen des Gebrauches von Fig. 88 begegneten uns auf meli- 1) Dies könnte auch von den durchgeschlungenen Bändern in Fig. 83 und 84 gelten, da dieselben nicht zum intermittirenden Grundschema gehören.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/215>, abgerufen am 04.12.2024.