Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite
B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.

Es ist hier der Platz, um über die Fortbildung der altorien-
talischen, genauer gesagt, der egyptischen Blüthenmotive in
der griechischen Kunst
überhaupt einige Worte einzuschalten. An
der Knospe war allerdings nicht viel zu ändern; die Palmette erfordert,
als eine ganz specielle Projectionsform, eine gesonderte Betrachtung,
die sie weiter unten an geeigneter Stelle finden wird. Hier soll nur
von dem Motiv der Lotusblüthe selbst die Rede sein. Wenn man
nicht annehmen will, dass alle kunstübenden Mittelmeervölker im
Alterthum spontan das dreiblättrige Profil zur Darstellung von Blüthen
in der Seitenansicht erfunden und gewählt haben, so muss man noth-
gedrungenermaassen alle diese Formen -- direkt oder indirekt -- auf
egyptischen Ursprung zurückführen, da, wie wir gesehen haben, die
Egypter, soweit die Denkmäler zurückreichen, weitaus die Ersten ge-
wesen sind, die den dreiblättrigen Kelch (mit eingeschalteter viel-
blättriger Krone) für das Lotusprofil geschaffen und verwendet haben.

Inwiefern nun die Mittelmeervölker, die das Motiv der dreiblätt-
rigen Profilblüthe übernahmen, sich dabei auch der Bedeutung des
Lotus bewusst gewesen sind und dieselbe mit ihren Imitationen des
Motivs verknüpft haben, ist heute nicht mehr zu entscheiden. Von
den Griechen etwa des 6. Jahrhunderts aber wird man es bestimmt
verneinen können: ihnen war die Lotusblüthe gewiss kein hieratisches
Symbol, sondern ein blosses Dekorativ, da wir in ersterem Falle doch
gewiss irgendwelche schriftliche Anhaltspunkte dafür erhalten hätten.
Die Stilisirung der Lotusblüthen konnte somit zu dieser Zeit wohl
nur mehr unter künstlerischen Gesichtspunkten erfolgen. Solcher
künstlerischer Gesichtspunkte sind in der That viele denkbar, und
nachdem einmal die Tradition durchbrochen war, man vor einer Modi-
fikation der überlieferten Form nicht mehr zurückscheute, war für die
Neubildungen eigentlich gar keine Grenze mehr gegeben. Wir müssen
uns vielmehr wundern, dass die Griechen bei ihren Umbildungen
wenigstens zunächst noch so viel Maass bewahrt haben.

Eine dieser Umbildungen liegt vor in den Blüthen des Bogen-
frieses von Fig. 89. Die dreispältige Blüthe ist unverkennbar und
darin beruht eigentlich in der Hauptsache die Verwandtschaft mit dem
egyptischen Lotusprofil. Der kyrenische Lotus ist nach oben stark
eingezogen; dies kommt zwar auch an egyptischen Beispielen vor
(Fig. 37), aber diese letzteren laden dann doch oben wieder in eine
ausgesprochene Kelchform aus, während die kyrenische Blüthe sich
birnförmig zu einem engen Halse schliesst und dann erst die krönen-

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.

Es ist hier der Platz, um über die Fortbildung der altorien-
talischen, genauer gesagt, der egyptischen Blüthenmotive in
der griechischen Kunst
überhaupt einige Worte einzuschalten. An
der Knospe war allerdings nicht viel zu ändern; die Palmette erfordert,
als eine ganz specielle Projectionsform, eine gesonderte Betrachtung,
die sie weiter unten an geeigneter Stelle finden wird. Hier soll nur
von dem Motiv der Lotusblüthe selbst die Rede sein. Wenn man
nicht annehmen will, dass alle kunstübenden Mittelmeervölker im
Alterthum spontan das dreiblättrige Profil zur Darstellung von Blüthen
in der Seitenansicht erfunden und gewählt haben, so muss man noth-
gedrungenermaassen alle diese Formen — direkt oder indirekt — auf
egyptischen Ursprung zurückführen, da, wie wir gesehen haben, die
Egypter, soweit die Denkmäler zurückreichen, weitaus die Ersten ge-
wesen sind, die den dreiblättrigen Kelch (mit eingeschalteter viel-
blättriger Krone) für das Lotusprofil geschaffen und verwendet haben.

Inwiefern nun die Mittelmeervölker, die das Motiv der dreiblätt-
rigen Profilblüthe übernahmen, sich dabei auch der Bedeutung des
Lotus bewusst gewesen sind und dieselbe mit ihren Imitationen des
Motivs verknüpft haben, ist heute nicht mehr zu entscheiden. Von
den Griechen etwa des 6. Jahrhunderts aber wird man es bestimmt
verneinen können: ihnen war die Lotusblüthe gewiss kein hieratisches
Symbol, sondern ein blosses Dekorativ, da wir in ersterem Falle doch
gewiss irgendwelche schriftliche Anhaltspunkte dafür erhalten hätten.
Die Stilisirung der Lotusblüthen konnte somit zu dieser Zeit wohl
nur mehr unter künstlerischen Gesichtspunkten erfolgen. Solcher
künstlerischer Gesichtspunkte sind in der That viele denkbar, und
nachdem einmal die Tradition durchbrochen war, man vor einer Modi-
fikation der überlieferten Form nicht mehr zurückscheute, war für die
Neubildungen eigentlich gar keine Grenze mehr gegeben. Wir müssen
uns vielmehr wundern, dass die Griechen bei ihren Umbildungen
wenigstens zunächst noch so viel Maass bewahrt haben.

Eine dieser Umbildungen liegt vor in den Blüthen des Bogen-
frieses von Fig. 89. Die dreispältige Blüthe ist unverkennbar und
darin beruht eigentlich in der Hauptsache die Verwandtschaft mit dem
egyptischen Lotusprofil. Der kyrenische Lotus ist nach oben stark
eingezogen; dies kommt zwar auch an egyptischen Beispielen vor
(Fig. 37), aber diese letzteren laden dann doch oben wieder in eine
ausgesprochene Kelchform aus, während die kyrenische Blüthe sich
birnförmig zu einem engen Halse schliesst und dann erst die krönen-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0218" n="192"/>
            <fw place="top" type="header">B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.</fw><lb/>
            <p>Es ist hier der Platz, um über die <hi rendition="#g">Fortbildung der altorien-<lb/>
talischen, genauer gesagt, der egyptischen Blüthenmotive in<lb/>
der griechischen Kunst</hi> überhaupt einige Worte einzuschalten. An<lb/>
der Knospe war allerdings nicht viel zu ändern; die Palmette erfordert,<lb/>
als eine ganz specielle Projectionsform, eine gesonderte Betrachtung,<lb/>
die sie weiter unten an geeigneter Stelle finden wird. Hier soll nur<lb/>
von dem Motiv der <hi rendition="#g">Lotusblüthe</hi> selbst die Rede sein. Wenn man<lb/>
nicht annehmen will, dass alle kunstübenden Mittelmeervölker im<lb/>
Alterthum spontan das dreiblättrige Profil zur Darstellung von Blüthen<lb/>
in der Seitenansicht erfunden und gewählt haben, so muss man noth-<lb/>
gedrungenermaassen alle diese Formen &#x2014; direkt oder indirekt &#x2014; auf<lb/>
egyptischen Ursprung zurückführen, da, wie wir gesehen haben, die<lb/>
Egypter, soweit die Denkmäler zurückreichen, weitaus die Ersten ge-<lb/>
wesen sind, die den dreiblättrigen Kelch (mit eingeschalteter viel-<lb/>
blättriger Krone) für das Lotusprofil geschaffen und verwendet haben.</p><lb/>
            <p>Inwiefern nun die Mittelmeervölker, die das Motiv der dreiblätt-<lb/>
rigen Profilblüthe übernahmen, sich dabei auch der Bedeutung des<lb/>
Lotus bewusst gewesen sind und dieselbe mit ihren Imitationen des<lb/>
Motivs verknüpft haben, ist heute nicht mehr zu entscheiden. Von<lb/>
den Griechen etwa des 6. Jahrhunderts aber wird man es bestimmt<lb/>
verneinen können: ihnen war die Lotusblüthe gewiss kein hieratisches<lb/>
Symbol, sondern ein blosses Dekorativ, da wir in ersterem Falle doch<lb/>
gewiss irgendwelche schriftliche Anhaltspunkte dafür erhalten hätten.<lb/>
Die Stilisirung der Lotusblüthen konnte somit zu dieser Zeit wohl<lb/>
nur mehr unter künstlerischen Gesichtspunkten erfolgen. Solcher<lb/>
künstlerischer Gesichtspunkte sind in der That viele denkbar, und<lb/>
nachdem einmal die Tradition durchbrochen war, man vor einer Modi-<lb/>
fikation der überlieferten Form nicht mehr zurückscheute, war für die<lb/>
Neubildungen eigentlich gar keine Grenze mehr gegeben. Wir müssen<lb/>
uns vielmehr wundern, dass die Griechen bei ihren Umbildungen<lb/>
wenigstens zunächst noch so viel Maass bewahrt haben.</p><lb/>
            <p>Eine dieser Umbildungen liegt vor in den Blüthen des Bogen-<lb/>
frieses von Fig. 89. Die dreispältige Blüthe ist unverkennbar und<lb/>
darin beruht eigentlich in der Hauptsache die Verwandtschaft mit dem<lb/>
egyptischen Lotusprofil. Der kyrenische Lotus ist nach oben stark<lb/>
eingezogen; dies kommt zwar auch an egyptischen Beispielen vor<lb/>
(Fig. 37), aber diese letzteren laden dann doch oben wieder in eine<lb/>
ausgesprochene Kelchform aus, während die kyrenische Blüthe sich<lb/>
birnförmig zu einem engen Halse schliesst und dann erst die krönen-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[192/0218] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. Es ist hier der Platz, um über die Fortbildung der altorien- talischen, genauer gesagt, der egyptischen Blüthenmotive in der griechischen Kunst überhaupt einige Worte einzuschalten. An der Knospe war allerdings nicht viel zu ändern; die Palmette erfordert, als eine ganz specielle Projectionsform, eine gesonderte Betrachtung, die sie weiter unten an geeigneter Stelle finden wird. Hier soll nur von dem Motiv der Lotusblüthe selbst die Rede sein. Wenn man nicht annehmen will, dass alle kunstübenden Mittelmeervölker im Alterthum spontan das dreiblättrige Profil zur Darstellung von Blüthen in der Seitenansicht erfunden und gewählt haben, so muss man noth- gedrungenermaassen alle diese Formen — direkt oder indirekt — auf egyptischen Ursprung zurückführen, da, wie wir gesehen haben, die Egypter, soweit die Denkmäler zurückreichen, weitaus die Ersten ge- wesen sind, die den dreiblättrigen Kelch (mit eingeschalteter viel- blättriger Krone) für das Lotusprofil geschaffen und verwendet haben. Inwiefern nun die Mittelmeervölker, die das Motiv der dreiblätt- rigen Profilblüthe übernahmen, sich dabei auch der Bedeutung des Lotus bewusst gewesen sind und dieselbe mit ihren Imitationen des Motivs verknüpft haben, ist heute nicht mehr zu entscheiden. Von den Griechen etwa des 6. Jahrhunderts aber wird man es bestimmt verneinen können: ihnen war die Lotusblüthe gewiss kein hieratisches Symbol, sondern ein blosses Dekorativ, da wir in ersterem Falle doch gewiss irgendwelche schriftliche Anhaltspunkte dafür erhalten hätten. Die Stilisirung der Lotusblüthen konnte somit zu dieser Zeit wohl nur mehr unter künstlerischen Gesichtspunkten erfolgen. Solcher künstlerischer Gesichtspunkte sind in der That viele denkbar, und nachdem einmal die Tradition durchbrochen war, man vor einer Modi- fikation der überlieferten Form nicht mehr zurückscheute, war für die Neubildungen eigentlich gar keine Grenze mehr gegeben. Wir müssen uns vielmehr wundern, dass die Griechen bei ihren Umbildungen wenigstens zunächst noch so viel Maass bewahrt haben. Eine dieser Umbildungen liegt vor in den Blüthen des Bogen- frieses von Fig. 89. Die dreispältige Blüthe ist unverkennbar und darin beruht eigentlich in der Hauptsache die Verwandtschaft mit dem egyptischen Lotusprofil. Der kyrenische Lotus ist nach oben stark eingezogen; dies kommt zwar auch an egyptischen Beispielen vor (Fig. 37), aber diese letzteren laden dann doch oben wieder in eine ausgesprochene Kelchform aus, während die kyrenische Blüthe sich birnförmig zu einem engen Halse schliesst und dann erst die krönen-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/218
Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/218>, abgerufen am 11.12.2024.