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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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7. Die Ausbildung der Ranken-Bordüre.
den drei Blätter strahlenförmig entsendet. Halten wir nun damit Lotus-
blüthen zusammen wie in Fig. 83, 85. Man möchte auf den ersten
Blick kaum geneigt sein, darin das gleiche Grundmotiv zu erkennen,
wie in Fig. 89. Und doch liegt dasselbe auch den Figg. 83 und 85 zu
Grunde. Das mittlere von den drei Blättern ist eben an den letzteren
nicht deutlich als Kelchblatt hervorgehoben, sondern mit den die Krone
bildenden Blättern vereinigt; die ausladenden seitlichen Kelchblätter
stehen wiederum dem egyptischen Typus ganz besonders nahe.

Die untere Partie ist ferner ebenfalls beiderseits ganz verschieden
gebildet: an Fig. 89 in tropfenförmiger Rundung, an Fig. 83 und 85
doppelbogig ausgeschnitten. Letzterer Umstand hängt aber mit dem
Voluten- (oder Schlingen-)Kelch zusammen, auf welchen die Blüthe
gestellt ist, während an Fig. 89 kein Kelch vorkommt. Der Voluten-
kelch ist nun keine nothwendige Beigabe der Lotusblüthe: wir treffen
ihn erst verschämt an assyrischen Beispielen (Fig. 34), namentlich aber
an griechischen, infolge der Verquickung mit der Spiralrankenorna-
mentik. Wo das griechische Lotusprofil, auf einen Kelch aufgesetzt,
vorkommt, dort ist dasselbe auch in seinem unteren Theile ent-
sprechend gestaltet4); wo der Kelch hinwegfällt, ist auch der untere
Theil der Blüthe rund, ja mitunter sogar in convexen Doppelbogen
ausladend (Fig. 104--106).

Entwicklungsgeschichtlich hängen alle diese vielgestaltigen
Variationen des Profillotus auf's Engste unter einander zusammen.
Damit soll nicht gerade gesagt sein, dass sich die Griechen nicht ganz
konkrete Species von Blumen darunter gedacht haben; doch wird die
Entscheidung hierüber heute gerade so schwierig, wo nicht unmöglich
sein, wie hinsichtlich der neueren persischen Dekorationsflora. Wenn
also Dümmler in einer Variante der dreispältigen Blüthe5) eine Rose
erblicken will, so mag er vielleicht Recht haben: viel zweifelloser
dürfte aber das Recht des Kunsthistorikers sein, die betreffende Blüthe
als Lotus in Seitenansicht zu bezeichnen, womit zwar nicht die Bedeutung
des Motivs bei den darstellenden Griechen, wohl aber seine kunstgeschicht-
liche Stellung mit grösster Wahrscheinlichkeit zum richtigen Ausdrucke
gebracht erscheint.

Nach dieser allgemeinen Bemerkung über die freie Behandlung
der Lotusblüthe in der griechischen Kunst kehren wir zur Betrachtung

4) Z. B. an den attischen Simen, Ant. Denkm. I. Taf. 50. -- Vgl. uns. Fig. 98.
5) Römische Mitth. 1888. Taf. VI. S. 161.
Riegl, Stilfragen. 13

7. Die Ausbildung der Ranken-Bordüre.
den drei Blätter strahlenförmig entsendet. Halten wir nun damit Lotus-
blüthen zusammen wie in Fig. 83, 85. Man möchte auf den ersten
Blick kaum geneigt sein, darin das gleiche Grundmotiv zu erkennen,
wie in Fig. 89. Und doch liegt dasselbe auch den Figg. 83 und 85 zu
Grunde. Das mittlere von den drei Blättern ist eben an den letzteren
nicht deutlich als Kelchblatt hervorgehoben, sondern mit den die Krone
bildenden Blättern vereinigt; die ausladenden seitlichen Kelchblätter
stehen wiederum dem egyptischen Typus ganz besonders nahe.

Die untere Partie ist ferner ebenfalls beiderseits ganz verschieden
gebildet: an Fig. 89 in tropfenförmiger Rundung, an Fig. 83 und 85
doppelbogig ausgeschnitten. Letzterer Umstand hängt aber mit dem
Voluten- (oder Schlingen-)Kelch zusammen, auf welchen die Blüthe
gestellt ist, während an Fig. 89 kein Kelch vorkommt. Der Voluten-
kelch ist nun keine nothwendige Beigabe der Lotusblüthe: wir treffen
ihn erst verschämt an assyrischen Beispielen (Fig. 34), namentlich aber
an griechischen, infolge der Verquickung mit der Spiralrankenorna-
mentik. Wo das griechische Lotusprofil, auf einen Kelch aufgesetzt,
vorkommt, dort ist dasselbe auch in seinem unteren Theile ent-
sprechend gestaltet4); wo der Kelch hinwegfällt, ist auch der untere
Theil der Blüthe rund, ja mitunter sogar in convexen Doppelbogen
ausladend (Fig. 104—106).

Entwicklungsgeschichtlich hängen alle diese vielgestaltigen
Variationen des Profillotus auf’s Engste unter einander zusammen.
Damit soll nicht gerade gesagt sein, dass sich die Griechen nicht ganz
konkrete Species von Blumen darunter gedacht haben; doch wird die
Entscheidung hierüber heute gerade so schwierig, wo nicht unmöglich
sein, wie hinsichtlich der neueren persischen Dekorationsflora. Wenn
also Dümmler in einer Variante der dreispältigen Blüthe5) eine Rose
erblicken will, so mag er vielleicht Recht haben: viel zweifelloser
dürfte aber das Recht des Kunsthistorikers sein, die betreffende Blüthe
als Lotus in Seitenansicht zu bezeichnen, womit zwar nicht die Bedeutung
des Motivs bei den darstellenden Griechen, wohl aber seine kunstgeschicht-
liche Stellung mit grösster Wahrscheinlichkeit zum richtigen Ausdrucke
gebracht erscheint.

Nach dieser allgemeinen Bemerkung über die freie Behandlung
der Lotusblüthe in der griechischen Kunst kehren wir zur Betrachtung

4) Z. B. an den attischen Simen, Ant. Denkm. I. Taf. 50. — Vgl. uns. Fig. 98.
5) Römische Mitth. 1888. Taf. VI. S. 161.
Riegl, Stilfragen. 13
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[193/0219] 7. Die Ausbildung der Ranken-Bordüre. den drei Blätter strahlenförmig entsendet. Halten wir nun damit Lotus- blüthen zusammen wie in Fig. 83, 85. Man möchte auf den ersten Blick kaum geneigt sein, darin das gleiche Grundmotiv zu erkennen, wie in Fig. 89. Und doch liegt dasselbe auch den Figg. 83 und 85 zu Grunde. Das mittlere von den drei Blättern ist eben an den letzteren nicht deutlich als Kelchblatt hervorgehoben, sondern mit den die Krone bildenden Blättern vereinigt; die ausladenden seitlichen Kelchblätter stehen wiederum dem egyptischen Typus ganz besonders nahe. Die untere Partie ist ferner ebenfalls beiderseits ganz verschieden gebildet: an Fig. 89 in tropfenförmiger Rundung, an Fig. 83 und 85 doppelbogig ausgeschnitten. Letzterer Umstand hängt aber mit dem Voluten- (oder Schlingen-)Kelch zusammen, auf welchen die Blüthe gestellt ist, während an Fig. 89 kein Kelch vorkommt. Der Voluten- kelch ist nun keine nothwendige Beigabe der Lotusblüthe: wir treffen ihn erst verschämt an assyrischen Beispielen (Fig. 34), namentlich aber an griechischen, infolge der Verquickung mit der Spiralrankenorna- mentik. Wo das griechische Lotusprofil, auf einen Kelch aufgesetzt, vorkommt, dort ist dasselbe auch in seinem unteren Theile ent- sprechend gestaltet 4); wo der Kelch hinwegfällt, ist auch der untere Theil der Blüthe rund, ja mitunter sogar in convexen Doppelbogen ausladend (Fig. 104—106). Entwicklungsgeschichtlich hängen alle diese vielgestaltigen Variationen des Profillotus auf’s Engste unter einander zusammen. Damit soll nicht gerade gesagt sein, dass sich die Griechen nicht ganz konkrete Species von Blumen darunter gedacht haben; doch wird die Entscheidung hierüber heute gerade so schwierig, wo nicht unmöglich sein, wie hinsichtlich der neueren persischen Dekorationsflora. Wenn also Dümmler in einer Variante der dreispältigen Blüthe 5) eine Rose erblicken will, so mag er vielleicht Recht haben: viel zweifelloser dürfte aber das Recht des Kunsthistorikers sein, die betreffende Blüthe als Lotus in Seitenansicht zu bezeichnen, womit zwar nicht die Bedeutung des Motivs bei den darstellenden Griechen, wohl aber seine kunstgeschicht- liche Stellung mit grösster Wahrscheinlichkeit zum richtigen Ausdrucke gebracht erscheint. Nach dieser allgemeinen Bemerkung über die freie Behandlung der Lotusblüthe in der griechischen Kunst kehren wir zur Betrachtung 4) Z. B. an den attischen Simen, Ant. Denkm. I. Taf. 50. — Vgl. uns. Fig. 98. 5) Römische Mitth. 1888. Taf. VI. S. 161. Riegl, Stilfragen. 13

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/219>, abgerufen am 04.12.2024.