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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der geometrische Stil.
figuren bleiben nichtsdestoweniger Thierfiguren, wenn ihnen auch die
Plasticität der körperlichen Erscheinung fehlt. Man ging aber endlich
auch daran, aus der Linie selbst eine Kunstform zu gestalten,
ohne dabei ein unmittelbares fertiges Vorbild aus der Natur im Auge
zu haben. Diese Gestaltungen geschahen unter Beobachtung der fun-
damentalen Kunstgesetze der Symmetrie und des Rhythmus: ein regel-
loses Gekritzel ist eben keine Kunstform. So bildete man Dreieck,
Quadrat, Raute, Zickzack u. s. w. aus der geraden, den Kreis, die
Wellenlinie, die Spirale aus der gekrümmten Linie. Es sind dies die
Figuren, die wir aus der Planimetrie kennen; in der Kunstgeschichte
pflegt man sie als geometrische zu bezeichnen. Der Kunststil, der sich
auf der ausschliesslichen oder doch überwiegenden Verwendung dieser
Gebilde aufbaut, heisst somit der geometrische Stil.

Wenn nun auch den Gebilden des geometrischen Stils anschei-
nend keine realen Wesenheiten zu Grunde liegen, so stellte man sich
damit dennoch nicht ausserhalb der Natur. Dieselben Gesetze von
Symmetrie und Rhythmus sind es doch, nach denen die Natur in der
Bildung ihrer Wesen verfährt (Mensch, Thier, Pflanze, Krystall), und
es bedarf keineswegs tieferer Einsicht, um zu bemerken, wie die
planimetrischen Grundformen und Configurationen den Naturwesen
latent anhaften. Der eingangs aufgestellte Satz von den engen Be-
ziehungen aller Kunstformen zu den körperlichen Naturerscheinungen
besteht also auch für die Formen des geometrischen Stiles zu recht.
Die geometrischen Kunstformen verhalten sich eben zu den übrigen
Kunstformen genau so, wie die Gesetze der Mathematik zu den leben-
digen Naturgesetzen. Ebensowenig, wie im sittlichen Verhalten der
Menschen, scheint es im Gange der Naturkräfte eine absolute Voll-
kommenheit zu geben: das Abweichen von den abstrakten Gesetzen
schafft da und dort die Geschichte, fesselt da und dort das Interesse,
unterbricht da und dort die Langeweile des ewigen Einerlei. Der
nach den obersten Gesetzen der Symmetrie und des Rhythmus streng
aufgebaute geometrische Stil ist, vom Standpunkte der Gesetzmässig-
keit betrachtet, der vollkommenste; in unserer Werthschätzung steht
er aber am niedrigsten, und auch die Entwicklungsgeschichte der
Künste, soweit wir dieselbe bisher kennen, lehrt, dass dieser Stil den
Völkern in der Regel zu einer Zeit eigen gewesen ist, da sie noch auf
einer verhältnissmässig niedrigen Kulturstufe verharrten.

Trotz dieser geringen ästhetischen Würdigung hat doch der geo-
metrische Stil im Verlaufe der letztverflossenen zwei Decennien eine

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Der geometrische Stil.
figuren bleiben nichtsdestoweniger Thierfiguren, wenn ihnen auch die
Plasticität der körperlichen Erscheinung fehlt. Man ging aber endlich
auch daran, aus der Linie selbst eine Kunstform zu gestalten,
ohne dabei ein unmittelbares fertiges Vorbild aus der Natur im Auge
zu haben. Diese Gestaltungen geschahen unter Beobachtung der fun-
damentalen Kunstgesetze der Symmetrie und des Rhythmus: ein regel-
loses Gekritzel ist eben keine Kunstform. So bildete man Dreieck,
Quadrat, Raute, Zickzack u. s. w. aus der geraden, den Kreis, die
Wellenlinie, die Spirale aus der gekrümmten Linie. Es sind dies die
Figuren, die wir aus der Planimetrie kennen; in der Kunstgeschichte
pflegt man sie als geometrische zu bezeichnen. Der Kunststil, der sich
auf der ausschliesslichen oder doch überwiegenden Verwendung dieser
Gebilde aufbaut, heisst somit der geometrische Stil.

Wenn nun auch den Gebilden des geometrischen Stils anschei-
nend keine realen Wesenheiten zu Grunde liegen, so stellte man sich
damit dennoch nicht ausserhalb der Natur. Dieselben Gesetze von
Symmetrie und Rhythmus sind es doch, nach denen die Natur in der
Bildung ihrer Wesen verfährt (Mensch, Thier, Pflanze, Krystall), und
es bedarf keineswegs tieferer Einsicht, um zu bemerken, wie die
planimetrischen Grundformen und Configurationen den Naturwesen
latent anhaften. Der eingangs aufgestellte Satz von den engen Be-
ziehungen aller Kunstformen zu den körperlichen Naturerscheinungen
besteht also auch für die Formen des geometrischen Stiles zu recht.
Die geometrischen Kunstformen verhalten sich eben zu den übrigen
Kunstformen genau so, wie die Gesetze der Mathematik zu den leben-
digen Naturgesetzen. Ebensowenig, wie im sittlichen Verhalten der
Menschen, scheint es im Gange der Naturkräfte eine absolute Voll-
kommenheit zu geben: das Abweichen von den abstrakten Gesetzen
schafft da und dort die Geschichte, fesselt da und dort das Interesse,
unterbricht da und dort die Langeweile des ewigen Einerlei. Der
nach den obersten Gesetzen der Symmetrie und des Rhythmus streng
aufgebaute geometrische Stil ist, vom Standpunkte der Gesetzmässig-
keit betrachtet, der vollkommenste; in unserer Werthschätzung steht
er aber am niedrigsten, und auch die Entwicklungsgeschichte der
Künste, soweit wir dieselbe bisher kennen, lehrt, dass dieser Stil den
Völkern in der Regel zu einer Zeit eigen gewesen ist, da sie noch auf
einer verhältnissmässig niedrigen Kulturstufe verharrten.

Trotz dieser geringen ästhetischen Würdigung hat doch der geo-
metrische Stil im Verlaufe der letztverflossenen zwei Decennien eine

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[3/0029] Der geometrische Stil. figuren bleiben nichtsdestoweniger Thierfiguren, wenn ihnen auch die Plasticität der körperlichen Erscheinung fehlt. Man ging aber endlich auch daran, aus der Linie selbst eine Kunstform zu gestalten, ohne dabei ein unmittelbares fertiges Vorbild aus der Natur im Auge zu haben. Diese Gestaltungen geschahen unter Beobachtung der fun- damentalen Kunstgesetze der Symmetrie und des Rhythmus: ein regel- loses Gekritzel ist eben keine Kunstform. So bildete man Dreieck, Quadrat, Raute, Zickzack u. s. w. aus der geraden, den Kreis, die Wellenlinie, die Spirale aus der gekrümmten Linie. Es sind dies die Figuren, die wir aus der Planimetrie kennen; in der Kunstgeschichte pflegt man sie als geometrische zu bezeichnen. Der Kunststil, der sich auf der ausschliesslichen oder doch überwiegenden Verwendung dieser Gebilde aufbaut, heisst somit der geometrische Stil. Wenn nun auch den Gebilden des geometrischen Stils anschei- nend keine realen Wesenheiten zu Grunde liegen, so stellte man sich damit dennoch nicht ausserhalb der Natur. Dieselben Gesetze von Symmetrie und Rhythmus sind es doch, nach denen die Natur in der Bildung ihrer Wesen verfährt (Mensch, Thier, Pflanze, Krystall), und es bedarf keineswegs tieferer Einsicht, um zu bemerken, wie die planimetrischen Grundformen und Configurationen den Naturwesen latent anhaften. Der eingangs aufgestellte Satz von den engen Be- ziehungen aller Kunstformen zu den körperlichen Naturerscheinungen besteht also auch für die Formen des geometrischen Stiles zu recht. Die geometrischen Kunstformen verhalten sich eben zu den übrigen Kunstformen genau so, wie die Gesetze der Mathematik zu den leben- digen Naturgesetzen. Ebensowenig, wie im sittlichen Verhalten der Menschen, scheint es im Gange der Naturkräfte eine absolute Voll- kommenheit zu geben: das Abweichen von den abstrakten Gesetzen schafft da und dort die Geschichte, fesselt da und dort das Interesse, unterbricht da und dort die Langeweile des ewigen Einerlei. Der nach den obersten Gesetzen der Symmetrie und des Rhythmus streng aufgebaute geometrische Stil ist, vom Standpunkte der Gesetzmässig- keit betrachtet, der vollkommenste; in unserer Werthschätzung steht er aber am niedrigsten, und auch die Entwicklungsgeschichte der Künste, soweit wir dieselbe bisher kennen, lehrt, dass dieser Stil den Völkern in der Regel zu einer Zeit eigen gewesen ist, da sie noch auf einer verhältnissmässig niedrigen Kulturstufe verharrten. Trotz dieser geringen ästhetischen Würdigung hat doch der geo- metrische Stil im Verlaufe der letztverflossenen zwei Decennien eine 1*

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/29>, abgerufen am 03.12.2024.