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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der geometrische Stil.
sehr weitgehende Berücksichtigung erfahren. Einmal von Seiten der
archäologischen Forschung. Die ältesten Nekropolen von Cypern, die
vorhomerischen Schichten von Hissarlik, die Terramaren der Poebene,
die Gräber des prähistorischen Nord- und Mitteleuropa u. a. förderten
den geometrischen Stil an Gegenständen zu Tage, deren Entstehung
nach sehr gewichtigen Anzeichen in verhältnissmässig frühe Zeiten zu-
rückgehen dürfte. Dazu gesellten sich die Beobachtungen der ethno-
logischen Forscher, denen die charakteristischen Linienmotive des
geometrischen Stils vielfach als Verzierungen auf Geräthen moderner
Naturvölker begegneten. Da wir im Sinne der modernen Naturwissen-
schaft uns für berechtigt halten, die Naturvölker für rudimentäre
Überbleibsel des Menschengeschlechtes aus früheren längstverflossenen
Kulturperioden anzusehen, so erscheint, in diesem Lichte betrachtet,
die geometrische Ornamentik heutiger Naturvölker ebenfalls als eine
historisch längst überwundene Phase der Entwicklung der dekorativen
Künste, und darum von hoher historischer Bedeutsamkeit.

Da nun die wenigen grundlegenden Motive des geometrischen
Stils sich fast bei allen jenen prähistorischen und Naturvölkern in der
gleichen Weise, wenngleich in verschiedenen Combinationen und unter
wechselnder Bevorzugung einzelner Motive, gefunden haben, in Europa
wie in Asien, in Afrika wie in Amerika und in Polynesien, so zog
man hieraus den Schluss, dass der geometrische Stil nicht auf einem
Punkte der Erdoberfläche erfunden und von diesem Punkte aus über
alle Welttheile hin verbreitet worden sein mochte, sondern dass er, wo
nicht bei allen, so doch bei den meisten Völkern, bei denen wir seiner
Anwendung begegnen, spontan entstanden wäre. Als höchst naiv und
unwissend würde derjenige gelten, der zwei Töpfe verschiedener Her-
kunft, die beide das gleiche Zickzackmuster aufweisen, nicht etwa in
unmittelbaren Zusammenhang, nein, bloss in eine ganz entfernte, durch
eine längere Reihe von Zwischengliedern vermittelte Verwandtschaft
unter einander bringen wollte. Der geometrische Stil wäre überall
auf der Erdoberfläche spontan entstanden
: dies ist der erste
autoritative Lehrsatz, der heutzutage von diesem Stile gilt.

Stand einmal diese Überzeugung fest, so ergab sich daraus sofort der
weitere Schluss, dass der Anstoss zur Erfindung und Entfaltung dieses
Stils wohl überall der gleiche gewesen sein musste. Der rastlos nach
Causalzusammenhängen forschende Sinn unseres naturwissenschaftlichen
Zeitalters war alsbald bemüht, dieses Etwas zu ergründen, das den geo-
metrischen Stil an so vielen Punkten spontan hat in's Leben treten

Der geometrische Stil.
sehr weitgehende Berücksichtigung erfahren. Einmal von Seiten der
archäologischen Forschung. Die ältesten Nekropolen von Cypern, die
vorhomerischen Schichten von Hissarlik, die Terramaren der Poebene,
die Gräber des prähistorischen Nord- und Mitteleuropa u. a. förderten
den geometrischen Stil an Gegenständen zu Tage, deren Entstehung
nach sehr gewichtigen Anzeichen in verhältnissmässig frühe Zeiten zu-
rückgehen dürfte. Dazu gesellten sich die Beobachtungen der ethno-
logischen Forscher, denen die charakteristischen Linienmotive des
geometrischen Stils vielfach als Verzierungen auf Geräthen moderner
Naturvölker begegneten. Da wir im Sinne der modernen Naturwissen-
schaft uns für berechtigt halten, die Naturvölker für rudimentäre
Überbleibsel des Menschengeschlechtes aus früheren längstverflossenen
Kulturperioden anzusehen, so erscheint, in diesem Lichte betrachtet,
die geometrische Ornamentik heutiger Naturvölker ebenfalls als eine
historisch längst überwundene Phase der Entwicklung der dekorativen
Künste, und darum von hoher historischer Bedeutsamkeit.

Da nun die wenigen grundlegenden Motive des geometrischen
Stils sich fast bei allen jenen prähistorischen und Naturvölkern in der
gleichen Weise, wenngleich in verschiedenen Combinationen und unter
wechselnder Bevorzugung einzelner Motive, gefunden haben, in Europa
wie in Asien, in Afrika wie in Amerika und in Polynesien, so zog
man hieraus den Schluss, dass der geometrische Stil nicht auf einem
Punkte der Erdoberfläche erfunden und von diesem Punkte aus über
alle Welttheile hin verbreitet worden sein mochte, sondern dass er, wo
nicht bei allen, so doch bei den meisten Völkern, bei denen wir seiner
Anwendung begegnen, spontan entstanden wäre. Als höchst naiv und
unwissend würde derjenige gelten, der zwei Töpfe verschiedener Her-
kunft, die beide das gleiche Zickzackmuster aufweisen, nicht etwa in
unmittelbaren Zusammenhang, nein, bloss in eine ganz entfernte, durch
eine längere Reihe von Zwischengliedern vermittelte Verwandtschaft
unter einander bringen wollte. Der geometrische Stil wäre überall
auf der Erdoberfläche spontan entstanden
: dies ist der erste
autoritative Lehrsatz, der heutzutage von diesem Stile gilt.

Stand einmal diese Überzeugung fest, so ergab sich daraus sofort der
weitere Schluss, dass der Anstoss zur Erfindung und Entfaltung dieses
Stils wohl überall der gleiche gewesen sein musste. Der rastlos nach
Causalzusammenhängen forschende Sinn unseres naturwissenschaftlichen
Zeitalters war alsbald bemüht, dieses Etwas zu ergründen, das den geo-
metrischen Stil an so vielen Punkten spontan hat in’s Leben treten

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[4/0030] Der geometrische Stil. sehr weitgehende Berücksichtigung erfahren. Einmal von Seiten der archäologischen Forschung. Die ältesten Nekropolen von Cypern, die vorhomerischen Schichten von Hissarlik, die Terramaren der Poebene, die Gräber des prähistorischen Nord- und Mitteleuropa u. a. förderten den geometrischen Stil an Gegenständen zu Tage, deren Entstehung nach sehr gewichtigen Anzeichen in verhältnissmässig frühe Zeiten zu- rückgehen dürfte. Dazu gesellten sich die Beobachtungen der ethno- logischen Forscher, denen die charakteristischen Linienmotive des geometrischen Stils vielfach als Verzierungen auf Geräthen moderner Naturvölker begegneten. Da wir im Sinne der modernen Naturwissen- schaft uns für berechtigt halten, die Naturvölker für rudimentäre Überbleibsel des Menschengeschlechtes aus früheren längstverflossenen Kulturperioden anzusehen, so erscheint, in diesem Lichte betrachtet, die geometrische Ornamentik heutiger Naturvölker ebenfalls als eine historisch längst überwundene Phase der Entwicklung der dekorativen Künste, und darum von hoher historischer Bedeutsamkeit. Da nun die wenigen grundlegenden Motive des geometrischen Stils sich fast bei allen jenen prähistorischen und Naturvölkern in der gleichen Weise, wenngleich in verschiedenen Combinationen und unter wechselnder Bevorzugung einzelner Motive, gefunden haben, in Europa wie in Asien, in Afrika wie in Amerika und in Polynesien, so zog man hieraus den Schluss, dass der geometrische Stil nicht auf einem Punkte der Erdoberfläche erfunden und von diesem Punkte aus über alle Welttheile hin verbreitet worden sein mochte, sondern dass er, wo nicht bei allen, so doch bei den meisten Völkern, bei denen wir seiner Anwendung begegnen, spontan entstanden wäre. Als höchst naiv und unwissend würde derjenige gelten, der zwei Töpfe verschiedener Her- kunft, die beide das gleiche Zickzackmuster aufweisen, nicht etwa in unmittelbaren Zusammenhang, nein, bloss in eine ganz entfernte, durch eine längere Reihe von Zwischengliedern vermittelte Verwandtschaft unter einander bringen wollte. Der geometrische Stil wäre überall auf der Erdoberfläche spontan entstanden: dies ist der erste autoritative Lehrsatz, der heutzutage von diesem Stile gilt. Stand einmal diese Überzeugung fest, so ergab sich daraus sofort der weitere Schluss, dass der Anstoss zur Erfindung und Entfaltung dieses Stils wohl überall der gleiche gewesen sein musste. Der rastlos nach Causalzusammenhängen forschende Sinn unseres naturwissenschaftlichen Zeitalters war alsbald bemüht, dieses Etwas zu ergründen, das den geo- metrischen Stil an so vielen Punkten spontan hat in’s Leben treten

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/30>, abgerufen am 21.11.2024.