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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der geometrische Stil.
tausenden begegnen, behauptet, so müssen wir uns damit begnügen,
darzuthun, dass in dieser Frage eine zuverlässige Entscheidung heut-
zutage nicht getroffen werden kann, und daher die autoritäre, Allge-
meingiltigkeit beanspruchende Fassung, in welcher der besagte Lehrsatz
heute vorgetragen wird, zumindest eine verfrühte genannt werden
muss. Wie lineare Motive bei einem Volke spontan in die Ornamentik
eingeführt werden, lässt sich heutzutage wohl nirgends mehr beobachten.
Die spontane Entstehung an mehreren verschiedenen Punkten lässt
sich somit nicht mehr unmittelbar beweisen, allerdings auch nicht das
Gegentheil. Das Material, auf Grund dessen man ein zuverlässiges
Urtheil schöpfen könnte, ist einfach nicht mehr vorhanden, und es liegt
daher dermalen auch kein genügender Grund vor, um die Verbreitung
des geometrischen Stils von einem einzigen Punkte aus zu behaupten.
Es muss sogar zugestanden werden, dass es Völkerschaften mit
sehr respektablem ornamentalem Kunstschaffen giebt, deren nachweis-
liche, des bei ihnen beobachteten gänzlichen Mangels an Metall und
Metallwaaren halber unabsehbar weit zurückreichende Isolirtheit eine
Abhängigkeit von anderen Kunstvölkern geradezu auszuschliessen
scheint; dem interessantesten dieser Völker, den Maori auf Neuseeland,
werden auch wir späterhin mehrfach Beachtung zu schenken Veran-
lassung finden.

So viel wird man aber immerhin sagen dürfen, dass die Ergebnisse
der letztjährigen Forschungen der Annahme allzuvieler selbständiger Ent-
stehungsherde keineswegs günstig scheinen. Die Zeiten, in welche die
bezüglichen Funde in den Mittelmeerländern zurückgehen, rücken uns
immer näher und entfernen sich in dem gleichen Maasse vom supponirten
Urzustande, und das Gleiche gilt von den Überbleibseln der sogen. nord-
und mitteleuropäischen Bronzezeit. Ferner wird es immer klarer, dass die
friedlichen Beziehungen selbst sehr entfernter Völker zu einander, ihr
Verkehr zur See und zu Lande, wenn auch durch zahlreiche Zwischen-
glieder vermittelt, in überaus frühe Zeiten zurückgehen; an Gelegen-
heiten, welche den stets wachen Nachahmungstrieb der Menschen reizen
mochten, hat es somit seit unvordenklichen Zeiten nicht gefehlt. Min-
destens zwischen den das Mittelmeerbecken umwohnenden Völkern
werden vielfache causale Zusammenhänge auch in Betreff des geome-
trischen Stils nicht abzuweisen sein. Und was die anscheinend primi-
tive geometrische Ornamentik bei den modernen Naturvölkern betrifft,
so erscheint da doppelte Vorsicht geboten zu einer Zeit, da selbst die
chinesische Mauer bedenkliche Risse zeigt, wie insbesondere die Nach-

Der geometrische Stil.
tausenden begegnen, behauptet, so müssen wir uns damit begnügen,
darzuthun, dass in dieser Frage eine zuverlässige Entscheidung heut-
zutage nicht getroffen werden kann, und daher die autoritäre, Allge-
meingiltigkeit beanspruchende Fassung, in welcher der besagte Lehrsatz
heute vorgetragen wird, zumindest eine verfrühte genannt werden
muss. Wie lineare Motive bei einem Volke spontan in die Ornamentik
eingeführt werden, lässt sich heutzutage wohl nirgends mehr beobachten.
Die spontane Entstehung an mehreren verschiedenen Punkten lässt
sich somit nicht mehr unmittelbar beweisen, allerdings auch nicht das
Gegentheil. Das Material, auf Grund dessen man ein zuverlässiges
Urtheil schöpfen könnte, ist einfach nicht mehr vorhanden, und es liegt
daher dermalen auch kein genügender Grund vor, um die Verbreitung
des geometrischen Stils von einem einzigen Punkte aus zu behaupten.
Es muss sogar zugestanden werden, dass es Völkerschaften mit
sehr respektablem ornamentalem Kunstschaffen giebt, deren nachweis-
liche, des bei ihnen beobachteten gänzlichen Mangels an Metall und
Metallwaaren halber unabsehbar weit zurückreichende Isolirtheit eine
Abhängigkeit von anderen Kunstvölkern geradezu auszuschliessen
scheint; dem interessantesten dieser Völker, den Maori auf Neuseeland,
werden auch wir späterhin mehrfach Beachtung zu schenken Veran-
lassung finden.

So viel wird man aber immerhin sagen dürfen, dass die Ergebnisse
der letztjährigen Forschungen der Annahme allzuvieler selbständiger Ent-
stehungsherde keineswegs günstig scheinen. Die Zeiten, in welche die
bezüglichen Funde in den Mittelmeerländern zurückgehen, rücken uns
immer näher und entfernen sich in dem gleichen Maasse vom supponirten
Urzustande, und das Gleiche gilt von den Überbleibseln der sogen. nord-
und mitteleuropäischen Bronzezeit. Ferner wird es immer klarer, dass die
friedlichen Beziehungen selbst sehr entfernter Völker zu einander, ihr
Verkehr zur See und zu Lande, wenn auch durch zahlreiche Zwischen-
glieder vermittelt, in überaus frühe Zeiten zurückgehen; an Gelegen-
heiten, welche den stets wachen Nachahmungstrieb der Menschen reizen
mochten, hat es somit seit unvordenklichen Zeiten nicht gefehlt. Min-
destens zwischen den das Mittelmeerbecken umwohnenden Völkern
werden vielfache causale Zusammenhänge auch in Betreff des geome-
trischen Stils nicht abzuweisen sein. Und was die anscheinend primi-
tive geometrische Ornamentik bei den modernen Naturvölkern betrifft,
so erscheint da doppelte Vorsicht geboten zu einer Zeit, da selbst die
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[8/0034] Der geometrische Stil. tausenden begegnen, behauptet, so müssen wir uns damit begnügen, darzuthun, dass in dieser Frage eine zuverlässige Entscheidung heut- zutage nicht getroffen werden kann, und daher die autoritäre, Allge- meingiltigkeit beanspruchende Fassung, in welcher der besagte Lehrsatz heute vorgetragen wird, zumindest eine verfrühte genannt werden muss. Wie lineare Motive bei einem Volke spontan in die Ornamentik eingeführt werden, lässt sich heutzutage wohl nirgends mehr beobachten. Die spontane Entstehung an mehreren verschiedenen Punkten lässt sich somit nicht mehr unmittelbar beweisen, allerdings auch nicht das Gegentheil. Das Material, auf Grund dessen man ein zuverlässiges Urtheil schöpfen könnte, ist einfach nicht mehr vorhanden, und es liegt daher dermalen auch kein genügender Grund vor, um die Verbreitung des geometrischen Stils von einem einzigen Punkte aus zu behaupten. Es muss sogar zugestanden werden, dass es Völkerschaften mit sehr respektablem ornamentalem Kunstschaffen giebt, deren nachweis- liche, des bei ihnen beobachteten gänzlichen Mangels an Metall und Metallwaaren halber unabsehbar weit zurückreichende Isolirtheit eine Abhängigkeit von anderen Kunstvölkern geradezu auszuschliessen scheint; dem interessantesten dieser Völker, den Maori auf Neuseeland, werden auch wir späterhin mehrfach Beachtung zu schenken Veran- lassung finden. So viel wird man aber immerhin sagen dürfen, dass die Ergebnisse der letztjährigen Forschungen der Annahme allzuvieler selbständiger Ent- stehungsherde keineswegs günstig scheinen. Die Zeiten, in welche die bezüglichen Funde in den Mittelmeerländern zurückgehen, rücken uns immer näher und entfernen sich in dem gleichen Maasse vom supponirten Urzustande, und das Gleiche gilt von den Überbleibseln der sogen. nord- und mitteleuropäischen Bronzezeit. Ferner wird es immer klarer, dass die friedlichen Beziehungen selbst sehr entfernter Völker zu einander, ihr Verkehr zur See und zu Lande, wenn auch durch zahlreiche Zwischen- glieder vermittelt, in überaus frühe Zeiten zurückgehen; an Gelegen- heiten, welche den stets wachen Nachahmungstrieb der Menschen reizen mochten, hat es somit seit unvordenklichen Zeiten nicht gefehlt. Min- destens zwischen den das Mittelmeerbecken umwohnenden Völkern werden vielfache causale Zusammenhänge auch in Betreff des geome- trischen Stils nicht abzuweisen sein. Und was die anscheinend primi- tive geometrische Ornamentik bei den modernen Naturvölkern betrifft, so erscheint da doppelte Vorsicht geboten zu einer Zeit, da selbst die chinesische Mauer bedenkliche Risse zeigt, wie insbesondere die Nach-

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/34>, abgerufen am 21.11.2024.