Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.Der geometrische Stil. jüngste Zeit ein näheres Eingehen auf den ganzen Process, der vonden Textiltechniken zu den geometrischen Verzierungen auf den früh- griechischen Vasen geführt haben mochte, für überflüssig gehalten wurde. Angesichts der streng wissenschaftlichen Methode, mit welcher die klassische Archäologie unserer Tage arbeitet, ist die Autoritätsgläu- bigkeit gegenüber dem in Rede stehenden Lehrsatze nur zu verstehen, wenn man den allgemeinen Zug der Zeit, die übermächtige Strömung der Geister in den letztverflossenen dreissig Jahren in Betracht zieht. Es ist die durch Lamark und Goethe angebahnte, durch Darwin zum reifen Ausdruck gelangte Art der Weltanschauung nach stofflich-natur- wissenschaftlichen Gesichtspunkten, die auch auf dem Gebiete der Kunst- forschung schwerwiegende Folgen nach sich gezogen hat. Parallel mit der Darlegung der Entwicklung der Arten unter rein stofflichen Fort- bildungsmotiven war man bestrebt, auch für die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts ursprünglich wesentlich materielle Hebel aus- findig zu machen. Die Kunst als augenscheinlich höhere Potenz einer geistigen Entwicklung konnte -- so meinte man -- nicht von Anbeginn vorhanden gewesen sein. Zuerst wäre die auf Erreichung rein praktischer Zwecke gerichtete Technik da gewesen, aus der sich erst mit steigender Entwicklung der Kultur die Kunst entfaltet hätte. Zu den ältesten Techniken zählte man die Flechterei und Weberei, zu den ältesten Verzierungs- oder Kunstformen die geradlinigen geometrischen Figuren. Da nun die geradlinigen geometrischen Figuren sich für die Musterung einfacher Geflechte und Gewebe aus technischen Bequemlichkeitsgründen ganz besonders eignen, lag es sozusagen in der Luft, beide Erschei- nungen in causalen Zusammenhang unter einander zu bringen und zu erklären: die geradlinigen geometrischen Figuren sind ursprünglich nicht auf dem Wege künstlerischer Erfindung, sondern durch die Technik auf dem Wege einer generatio spontanea hervorgebracht. Diese geradlinigen geometrischen Ornamente sind aber nicht die Der geometrische Stil. jüngste Zeit ein näheres Eingehen auf den ganzen Process, der vonden Textiltechniken zu den geometrischen Verzierungen auf den früh- griechischen Vasen geführt haben mochte, für überflüssig gehalten wurde. Angesichts der streng wissenschaftlichen Methode, mit welcher die klassische Archäologie unserer Tage arbeitet, ist die Autoritätsgläu- bigkeit gegenüber dem in Rede stehenden Lehrsatze nur zu verstehen, wenn man den allgemeinen Zug der Zeit, die übermächtige Strömung der Geister in den letztverflossenen dreissig Jahren in Betracht zieht. Es ist die durch Lamark und Goethe angebahnte, durch Darwin zum reifen Ausdruck gelangte Art der Weltanschauung nach stofflich-natur- wissenschaftlichen Gesichtspunkten, die auch auf dem Gebiete der Kunst- forschung schwerwiegende Folgen nach sich gezogen hat. Parallel mit der Darlegung der Entwicklung der Arten unter rein stofflichen Fort- bildungsmotiven war man bestrebt, auch für die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts ursprünglich wesentlich materielle Hebel aus- findig zu machen. Die Kunst als augenscheinlich höhere Potenz einer geistigen Entwicklung konnte — so meinte man — nicht von Anbeginn vorhanden gewesen sein. Zuerst wäre die auf Erreichung rein praktischer Zwecke gerichtete Technik da gewesen, aus der sich erst mit steigender Entwicklung der Kultur die Kunst entfaltet hätte. Zu den ältesten Techniken zählte man die Flechterei und Weberei, zu den ältesten Verzierungs- oder Kunstformen die geradlinigen geometrischen Figuren. Da nun die geradlinigen geometrischen Figuren sich für die Musterung einfacher Geflechte und Gewebe aus technischen Bequemlichkeitsgründen ganz besonders eignen, lag es sozusagen in der Luft, beide Erschei- nungen in causalen Zusammenhang unter einander zu bringen und zu erklären: die geradlinigen geometrischen Figuren sind ursprünglich nicht auf dem Wege künstlerischer Erfindung, sondern durch die Technik auf dem Wege einer generatio spontanea hervorgebracht. 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Der geometrische Stil.
jüngste Zeit ein näheres Eingehen auf den ganzen Process, der von
den Textiltechniken zu den geometrischen Verzierungen auf den früh-
griechischen Vasen geführt haben mochte, für überflüssig gehalten
wurde. Angesichts der streng wissenschaftlichen Methode, mit welcher
die klassische Archäologie unserer Tage arbeitet, ist die Autoritätsgläu-
bigkeit gegenüber dem in Rede stehenden Lehrsatze nur zu verstehen,
wenn man den allgemeinen Zug der Zeit, die übermächtige Strömung
der Geister in den letztverflossenen dreissig Jahren in Betracht zieht.
Es ist die durch Lamark und Goethe angebahnte, durch Darwin zum
reifen Ausdruck gelangte Art der Weltanschauung nach stofflich-natur-
wissenschaftlichen Gesichtspunkten, die auch auf dem Gebiete der Kunst-
forschung schwerwiegende Folgen nach sich gezogen hat. Parallel mit
der Darlegung der Entwicklung der Arten unter rein stofflichen Fort-
bildungsmotiven war man bestrebt, auch für die geistige Entwicklung
des Menschengeschlechts ursprünglich wesentlich materielle Hebel aus-
findig zu machen. Die Kunst als augenscheinlich höhere Potenz einer
geistigen Entwicklung konnte — so meinte man — nicht von Anbeginn
vorhanden gewesen sein. Zuerst wäre die auf Erreichung rein praktischer
Zwecke gerichtete Technik da gewesen, aus der sich erst mit steigender
Entwicklung der Kultur die Kunst entfaltet hätte. Zu den ältesten
Techniken zählte man die Flechterei und Weberei, zu den ältesten
Verzierungs- oder Kunstformen die geradlinigen geometrischen Figuren.
Da nun die geradlinigen geometrischen Figuren sich für die Musterung
einfacher Geflechte und Gewebe aus technischen Bequemlichkeitsgründen
ganz besonders eignen, lag es sozusagen in der Luft, beide Erschei-
nungen in causalen Zusammenhang unter einander zu bringen und zu
erklären: die geradlinigen geometrischen Figuren sind ursprünglich
nicht auf dem Wege künstlerischer Erfindung, sondern durch die
Technik auf dem Wege einer generatio spontanea hervorgebracht.
Diese geradlinigen geometrischen Ornamente sind aber nicht die
einzigen auf den ältesten vor- und frühgriechischen Vasen: es kommen
hiezu auch krummlinige Gebilde: Wellenlinie, Kreis, Spirale u. s. w.,
für deren Entstehung die Textiltechniken doch nicht so überzeugend
in’s Feld geführt werden konnten, wie für die geradlinigen Ornamente.
Dafür musste nun eine Anzahl anderweitiger Techniken herhalten, ja
man kann sagen, dass es in den letzten zwanzig Jahren, und zwar in
steigendem Maasse, ein fundamentales methodisches Gesetz der klassi-
schen Archäologie gewesen ist, für jedes Motiv, das man von einem
gewissen Punkte aus nicht mehr im Wege lehnweiser Uebernahme nach
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