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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Die Arabeske.
längst fertig und gegeben war, wenn in der That, wofür mehrfacher
Anschein spricht, gegen Ende des Mittelalters eine naturalisirende
Tendenz in gewissen Techniken und auf bestimmten lokalen Gebieten
zum Durchbruch gekommen sein sollte. Mit weitaus besserem Grunde
wird man aber die Erklärung der naturalisirenden Bildungen gleich
Fig. 195 darin zu suchen haben, dass, so wie in antiker (S. 240) und
früh-mittelalterlicher (S. 289) Zeit auch in der vollentwickelten sara-
cenischen Kunst, namentlich an einzelnen Techniken traditionell haftend,
jederzeit zwei Strömungen der Pflanzenrankenornamentik, eine flache
und eine plastischere, eine arabeske und eine naturalisirende, neben
einander hergelaufen sind. Diese letztere wäre es sonach gewesen, die
in direkter Linie von den spätrömischen in einander geschachtelten
Akanthusblattkelchen zu den Kelchpalmetten auf den Teppichen der
persischen Staatsmanufakturen des 16. Jahrh. geführt hat.

Um den Ursprung der besprochenen naturalisirenden Blüthen-
bildungen in der persischen Teppichknüpferei des 15. und 16. Jahrh.
zu erklären, wurde vor Kurzem98) auf die Idee Sir Georges Birdwood's
zurückgegriffen, der die daran obwaltenden Beziehungen zu dem alt-
egyptischen und altmesopotamischen Ornamentmotiv der Lotusblüthe
zuerst literarisch zum Ausdruck gebracht hat. Dem betreffenden Autor
ist es vermuthlich nicht bewusst geworden, dass er damit im Grunde
nichts Anderes gesagt hat, als was ich schon in meinen "Altorientali-
schen Teppichen", vernehmlich genug für denjenigen, der sich nicht
der Mühe entschlagen hat, sich mit der Entwicklung der antiken
Pflanzenornamentik vertraut zu machen, angedeutet habe. Darin sind
wir eben gegenwärtig über den Standpunkt den noch Birdwood u. A.
in den bezüglichen Fragen einnehmen mussten, hinausgeschritten, dass
wir dasjenige, was jener geistreiche Forscher mehr intuitiv geahnt und
als Endresultat künftiger Specialuntersuchungen verkündet hatte, nun-
mehr mit einzelnen Zwischengliedern zu belegen, eine zusammen-
hängende Entwicklungskette für die früher lose behaupteten Anhalts-
punkte herzustellen, im Stande sind. Aber den von Birdwood, Owen
Jones, de Vogüe und Anderen vor so langer Zeit ausgesprochenen
Grundideen, soweit sie sich nach der angedeuteten Richtung bewegen,
entgegenzutreten, wäre ich der Letzte; ja, ich stehe nicht an zu er-
klären, dass es um unsere Erkenntniss mittelalterlicher Kunstgeschichte
besser und reifer bestellt wäre, wenn die gerade Linie rein histori-

98) Im Jahrbuch der kgl. preuss. Kunstsammlungen XIII. 134.

Die Arabeske.
längst fertig und gegeben war, wenn in der That, wofür mehrfacher
Anschein spricht, gegen Ende des Mittelalters eine naturalisirende
Tendenz in gewissen Techniken und auf bestimmten lokalen Gebieten
zum Durchbruch gekommen sein sollte. Mit weitaus besserem Grunde
wird man aber die Erklärung der naturalisirenden Bildungen gleich
Fig. 195 darin zu suchen haben, dass, so wie in antiker (S. 240) und
früh-mittelalterlicher (S. 289) Zeit auch in der vollentwickelten sara-
cenischen Kunst, namentlich an einzelnen Techniken traditionell haftend,
jederzeit zwei Strömungen der Pflanzenrankenornamentik, eine flache
und eine plastischere, eine arabeske und eine naturalisirende, neben
einander hergelaufen sind. Diese letztere wäre es sonach gewesen, die
in direkter Linie von den spätrömischen in einander geschachtelten
Akanthusblattkelchen zu den Kelchpalmetten auf den Teppichen der
persischen Staatsmanufakturen des 16. Jahrh. geführt hat.

Um den Ursprung der besprochenen naturalisirenden Blüthen-
bildungen in der persischen Teppichknüpferei des 15. und 16. Jahrh.
zu erklären, wurde vor Kurzem98) auf die Idee Sir Georges Birdwood’s
zurückgegriffen, der die daran obwaltenden Beziehungen zu dem alt-
egyptischen und altmesopotamischen Ornamentmotiv der Lotusblüthe
zuerst literarisch zum Ausdruck gebracht hat. Dem betreffenden Autor
ist es vermuthlich nicht bewusst geworden, dass er damit im Grunde
nichts Anderes gesagt hat, als was ich schon in meinen „Altorientali-
schen Teppichen“, vernehmlich genug für denjenigen, der sich nicht
der Mühe entschlagen hat, sich mit der Entwicklung der antiken
Pflanzenornamentik vertraut zu machen, angedeutet habe. Darin sind
wir eben gegenwärtig über den Standpunkt den noch Birdwood u. A.
in den bezüglichen Fragen einnehmen mussten, hinausgeschritten, dass
wir dasjenige, was jener geistreiche Forscher mehr intuitiv geahnt und
als Endresultat künftiger Specialuntersuchungen verkündet hatte, nun-
mehr mit einzelnen Zwischengliedern zu belegen, eine zusammen-
hängende Entwicklungskette für die früher lose behaupteten Anhalts-
punkte herzustellen, im Stande sind. Aber den von Birdwood, Owen
Jones, de Vogüé und Anderen vor so langer Zeit ausgesprochenen
Grundideen, soweit sie sich nach der angedeuteten Richtung bewegen,
entgegenzutreten, wäre ich der Letzte; ja, ich stehe nicht an zu er-
klären, dass es um unsere Erkenntniss mittelalterlicher Kunstgeschichte
besser und reifer bestellt wäre, wenn die gerade Linie rein histori-

98) Im Jahrbuch der kgl. preuss. Kunstsammlungen XIII. 134.
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[344/0370] Die Arabeske. längst fertig und gegeben war, wenn in der That, wofür mehrfacher Anschein spricht, gegen Ende des Mittelalters eine naturalisirende Tendenz in gewissen Techniken und auf bestimmten lokalen Gebieten zum Durchbruch gekommen sein sollte. Mit weitaus besserem Grunde wird man aber die Erklärung der naturalisirenden Bildungen gleich Fig. 195 darin zu suchen haben, dass, so wie in antiker (S. 240) und früh-mittelalterlicher (S. 289) Zeit auch in der vollentwickelten sara- cenischen Kunst, namentlich an einzelnen Techniken traditionell haftend, jederzeit zwei Strömungen der Pflanzenrankenornamentik, eine flache und eine plastischere, eine arabeske und eine naturalisirende, neben einander hergelaufen sind. Diese letztere wäre es sonach gewesen, die in direkter Linie von den spätrömischen in einander geschachtelten Akanthusblattkelchen zu den Kelchpalmetten auf den Teppichen der persischen Staatsmanufakturen des 16. Jahrh. geführt hat. Um den Ursprung der besprochenen naturalisirenden Blüthen- bildungen in der persischen Teppichknüpferei des 15. und 16. Jahrh. zu erklären, wurde vor Kurzem 98) auf die Idee Sir Georges Birdwood’s zurückgegriffen, der die daran obwaltenden Beziehungen zu dem alt- egyptischen und altmesopotamischen Ornamentmotiv der Lotusblüthe zuerst literarisch zum Ausdruck gebracht hat. Dem betreffenden Autor ist es vermuthlich nicht bewusst geworden, dass er damit im Grunde nichts Anderes gesagt hat, als was ich schon in meinen „Altorientali- schen Teppichen“, vernehmlich genug für denjenigen, der sich nicht der Mühe entschlagen hat, sich mit der Entwicklung der antiken Pflanzenornamentik vertraut zu machen, angedeutet habe. Darin sind wir eben gegenwärtig über den Standpunkt den noch Birdwood u. A. in den bezüglichen Fragen einnehmen mussten, hinausgeschritten, dass wir dasjenige, was jener geistreiche Forscher mehr intuitiv geahnt und als Endresultat künftiger Specialuntersuchungen verkündet hatte, nun- mehr mit einzelnen Zwischengliedern zu belegen, eine zusammen- hängende Entwicklungskette für die früher lose behaupteten Anhalts- punkte herzustellen, im Stande sind. Aber den von Birdwood, Owen Jones, de Vogüé und Anderen vor so langer Zeit ausgesprochenen Grundideen, soweit sie sich nach der angedeuteten Richtung bewegen, entgegenzutreten, wäre ich der Letzte; ja, ich stehe nicht an zu er- klären, dass es um unsere Erkenntniss mittelalterlicher Kunstgeschichte besser und reifer bestellt wäre, wenn die gerade Linie rein histori- 98) Im Jahrbuch der kgl. preuss. Kunstsammlungen XIII. 134.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/370>, abgerufen am 04.12.2024.