Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Der geometrische Stil.
soweit wir sie gegenwärtig überblicken, nichts Augenfälliges gemein.
Man nehme irgend einen von den ältesten geometrisch verzierten Thon-
scherben und wird daran mehr historische Beziehungspunkte zur späteren
hellenischen Kunst entdecken, als an den besten geschnitzten Handgriffen
und gravirten Thierfiguren aus der Dordogne. In letzterem Falle handelt
es sich also anscheinend um eine isolirte Entwicklung, isolirt wenigstens
in Bezug auf die späteren mittelländischen Künste. Was dagegen den
Gegenstand der Kunstgeschichte des Alterthums ausmacht, das sind
Erscheinungen, die entweder schon ursprünglich unter einander in
Wechselbeziehungen gestanden sind, oder doch im Laufe der Entwick-
lung in einander fliessen: Orient und Occident tauschen sich fortwährend
einander aus, und alles drängt unaufhaltsam zum Endziele der Ge-
sammtentwicklung der antiken Künste, zur Schaffung der hellenistisch-
römischen Weltkunst. Mit dieser letzteren haben die Troglodyten
Aquitaniens, soviel wir zu sehen vermögen, niemals, weder mittelbar
noch unmittelbar, zu thun gehabt.

Lassen sich also genügend triftige Gründe finden, welche die von
der Kunstgeschichte des Alterthums den Höhlenfunden der Dordogne
bisher bezeugte Gleichgiltigkeit zu rechtfertigen geeignet sein könnten,
so ist dies keineswegs der Fall mit der Geschichte der technischen
Künste, der ja so viel und wesentliches an der Aufhellung der (an-
geblich rein technischen) Anfänge der Künste gelegen sein sollte. Da
haben wir ja nun eine Kunst, die in völlig unmessbare Kulturperioden
der Menschheit hinaufreicht5). Von keinem der europäischen und west-
asiatischen Völker, bei denen man den geometrischen Vasenstil gefunden
hat, existirt ein genügender Grund zu der Annahme, dass dieselben
noch auf so barbarischer Kulturstufe gestanden wären wie die Troglo-
dyten Aquitaniens. Es hiesse nun gewiss den Forschern bitteres Un-
recht thun, die mit so viel uneigennützigem Eifer und peinlicher wissen-
schaftlicher Sorgfalt dem Studium dieser Fragen obliegen, wenn man
die Vermuthung äussern wollte, dass bloss die augenfällige Schwierig-
keit jene figuralen Schnitzereien und Gravirungen mit der Theorie

5) Ob zur Zeit der Entstehung der bezüglichen Kunsterzeugnisse noch
das Mammuth in Frankreich hauste, oder nur das einer späteren Zeit angehö-
rige Rennthier, ist in diesem Falle ziemlich irrelevant. Dass diese paläolithische
"Steinzeit" weit hinter jene Zeit zurückgeht, aus welcher die von der klassi-
schen Archäologie behandelten vorgriechischen Funde geometrischen Stils und
vollends diejenigen der Bronzezeit stammen, wird von Niemandem bestritten
und ist geologisch festgestellt.

Der geometrische Stil.
soweit wir sie gegenwärtig überblicken, nichts Augenfälliges gemein.
Man nehme irgend einen von den ältesten geometrisch verzierten Thon-
scherben und wird daran mehr historische Beziehungspunkte zur späteren
hellenischen Kunst entdecken, als an den besten geschnitzten Handgriffen
und gravirten Thierfiguren aus der Dordogne. In letzterem Falle handelt
es sich also anscheinend um eine isolirte Entwicklung, isolirt wenigstens
in Bezug auf die späteren mittelländischen Künste. Was dagegen den
Gegenstand der Kunstgeschichte des Alterthums ausmacht, das sind
Erscheinungen, die entweder schon ursprünglich unter einander in
Wechselbeziehungen gestanden sind, oder doch im Laufe der Entwick-
lung in einander fliessen: Orient und Occident tauschen sich fortwährend
einander aus, und alles drängt unaufhaltsam zum Endziele der Ge-
sammtentwicklung der antiken Künste, zur Schaffung der hellenistisch-
römischen Weltkunst. Mit dieser letzteren haben die Troglodyten
Aquitaniens, soviel wir zu sehen vermögen, niemals, weder mittelbar
noch unmittelbar, zu thun gehabt.

Lassen sich also genügend triftige Gründe finden, welche die von
der Kunstgeschichte des Alterthums den Höhlenfunden der Dordogne
bisher bezeugte Gleichgiltigkeit zu rechtfertigen geeignet sein könnten,
so ist dies keineswegs der Fall mit der Geschichte der technischen
Künste, der ja so viel und wesentliches an der Aufhellung der (an-
geblich rein technischen) Anfänge der Künste gelegen sein sollte. Da
haben wir ja nun eine Kunst, die in völlig unmessbare Kulturperioden
der Menschheit hinaufreicht5). Von keinem der europäischen und west-
asiatischen Völker, bei denen man den geometrischen Vasenstil gefunden
hat, existirt ein genügender Grund zu der Annahme, dass dieselben
noch auf so barbarischer Kulturstufe gestanden wären wie die Troglo-
dyten Aquitaniens. Es hiesse nun gewiss den Forschern bitteres Un-
recht thun, die mit so viel uneigennützigem Eifer und peinlicher wissen-
schaftlicher Sorgfalt dem Studium dieser Fragen obliegen, wenn man
die Vermuthung äussern wollte, dass bloss die augenfällige Schwierig-
keit jene figuralen Schnitzereien und Gravirungen mit der Theorie

5) Ob zur Zeit der Entstehung der bezüglichen Kunsterzeugnisse noch
das Mammuth in Frankreich hauste, oder nur das einer späteren Zeit angehö-
rige Rennthier, ist in diesem Falle ziemlich irrelevant. Dass diese paläolithische
„Steinzeit“ weit hinter jene Zeit zurückgeht, aus welcher die von der klassi-
schen Archäologie behandelten vorgriechischen Funde geometrischen Stils und
vollends diejenigen der Bronzezeit stammen, wird von Niemandem bestritten
und ist geologisch festgestellt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0044" n="18"/><fw place="top" type="header">Der geometrische Stil.</fw><lb/>
soweit wir sie gegenwärtig überblicken, nichts Augenfälliges gemein.<lb/>
Man nehme irgend einen von den ältesten geometrisch verzierten Thon-<lb/>
scherben und wird daran mehr historische Beziehungspunkte zur späteren<lb/>
hellenischen Kunst entdecken, als an den besten geschnitzten Handgriffen<lb/>
und gravirten Thierfiguren aus der Dordogne. In letzterem Falle handelt<lb/>
es sich also anscheinend um eine isolirte Entwicklung, isolirt wenigstens<lb/>
in Bezug auf die späteren mittelländischen Künste. Was dagegen den<lb/>
Gegenstand der Kunstgeschichte des Alterthums ausmacht, das sind<lb/>
Erscheinungen, die entweder schon ursprünglich unter einander in<lb/>
Wechselbeziehungen gestanden sind, oder doch im Laufe der Entwick-<lb/>
lung in einander fliessen: Orient und Occident tauschen sich fortwährend<lb/>
einander aus, und alles drängt unaufhaltsam zum Endziele der Ge-<lb/>
sammtentwicklung der antiken Künste, zur Schaffung der hellenistisch-<lb/>
römischen Weltkunst. Mit dieser letzteren haben die Troglodyten<lb/>
Aquitaniens, soviel wir zu sehen vermögen, niemals, weder mittelbar<lb/>
noch unmittelbar, zu thun gehabt.</p><lb/>
        <p>Lassen sich also genügend triftige Gründe finden, welche die von<lb/>
der Kunstgeschichte des Alterthums den Höhlenfunden der Dordogne<lb/>
bisher bezeugte Gleichgiltigkeit zu rechtfertigen geeignet sein könnten,<lb/>
so ist dies keineswegs der Fall mit der Geschichte der technischen<lb/>
Künste, der ja so viel und wesentliches an der Aufhellung der (an-<lb/>
geblich rein technischen) Anfänge der Künste gelegen sein sollte. Da<lb/>
haben wir ja nun eine Kunst, die in völlig unmessbare Kulturperioden<lb/>
der Menschheit hinaufreicht<note place="foot" n="5)">Ob zur Zeit der Entstehung der bezüglichen Kunsterzeugnisse noch<lb/>
das Mammuth in Frankreich hauste, oder nur das einer späteren Zeit angehö-<lb/>
rige Rennthier, ist in diesem Falle ziemlich irrelevant. Dass diese paläolithische<lb/>
&#x201E;Steinzeit&#x201C; weit hinter jene Zeit zurückgeht, aus welcher die von der klassi-<lb/>
schen Archäologie behandelten vorgriechischen Funde geometrischen Stils und<lb/>
vollends diejenigen der Bronzezeit stammen, wird von Niemandem bestritten<lb/>
und ist geologisch festgestellt.</note>. Von keinem der europäischen und west-<lb/>
asiatischen Völker, bei denen man den geometrischen Vasenstil gefunden<lb/>
hat, existirt ein genügender Grund zu der Annahme, dass dieselben<lb/>
noch auf so barbarischer Kulturstufe gestanden wären wie die Troglo-<lb/>
dyten Aquitaniens. Es hiesse nun gewiss den Forschern bitteres Un-<lb/>
recht thun, die mit so viel uneigennützigem Eifer und peinlicher wissen-<lb/>
schaftlicher Sorgfalt dem Studium dieser Fragen obliegen, wenn man<lb/>
die Vermuthung äussern wollte, dass bloss die augenfällige Schwierig-<lb/>
keit jene figuralen Schnitzereien und Gravirungen mit der Theorie<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0044] Der geometrische Stil. soweit wir sie gegenwärtig überblicken, nichts Augenfälliges gemein. Man nehme irgend einen von den ältesten geometrisch verzierten Thon- scherben und wird daran mehr historische Beziehungspunkte zur späteren hellenischen Kunst entdecken, als an den besten geschnitzten Handgriffen und gravirten Thierfiguren aus der Dordogne. In letzterem Falle handelt es sich also anscheinend um eine isolirte Entwicklung, isolirt wenigstens in Bezug auf die späteren mittelländischen Künste. Was dagegen den Gegenstand der Kunstgeschichte des Alterthums ausmacht, das sind Erscheinungen, die entweder schon ursprünglich unter einander in Wechselbeziehungen gestanden sind, oder doch im Laufe der Entwick- lung in einander fliessen: Orient und Occident tauschen sich fortwährend einander aus, und alles drängt unaufhaltsam zum Endziele der Ge- sammtentwicklung der antiken Künste, zur Schaffung der hellenistisch- römischen Weltkunst. Mit dieser letzteren haben die Troglodyten Aquitaniens, soviel wir zu sehen vermögen, niemals, weder mittelbar noch unmittelbar, zu thun gehabt. Lassen sich also genügend triftige Gründe finden, welche die von der Kunstgeschichte des Alterthums den Höhlenfunden der Dordogne bisher bezeugte Gleichgiltigkeit zu rechtfertigen geeignet sein könnten, so ist dies keineswegs der Fall mit der Geschichte der technischen Künste, der ja so viel und wesentliches an der Aufhellung der (an- geblich rein technischen) Anfänge der Künste gelegen sein sollte. Da haben wir ja nun eine Kunst, die in völlig unmessbare Kulturperioden der Menschheit hinaufreicht 5). Von keinem der europäischen und west- asiatischen Völker, bei denen man den geometrischen Vasenstil gefunden hat, existirt ein genügender Grund zu der Annahme, dass dieselben noch auf so barbarischer Kulturstufe gestanden wären wie die Troglo- dyten Aquitaniens. Es hiesse nun gewiss den Forschern bitteres Un- recht thun, die mit so viel uneigennützigem Eifer und peinlicher wissen- schaftlicher Sorgfalt dem Studium dieser Fragen obliegen, wenn man die Vermuthung äussern wollte, dass bloss die augenfällige Schwierig- keit jene figuralen Schnitzereien und Gravirungen mit der Theorie 5) Ob zur Zeit der Entstehung der bezüglichen Kunsterzeugnisse noch das Mammuth in Frankreich hauste, oder nur das einer späteren Zeit angehö- rige Rennthier, ist in diesem Falle ziemlich irrelevant. Dass diese paläolithische „Steinzeit“ weit hinter jene Zeit zurückgeht, aus welcher die von der klassi- schen Archäologie behandelten vorgriechischen Funde geometrischen Stils und vollends diejenigen der Bronzezeit stammen, wird von Niemandem bestritten und ist geologisch festgestellt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/44
Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/44>, abgerufen am 03.12.2024.