Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.Der geometrische Stil. von der technisch-materiellen Entstehung der Künste in Einklang zubringen, das beobachtete hartnäckige Stillschweigen über diesen Gegen- stand verschuldet hätte. Man betrachtete vielmehr diese Dinge offenbar als eine isolirte bizarre Erscheinung, mit welcher man vorläufig nichts anzufangen wusste, und für die sich vielleicht mit der Zeit und mit fortschreitenden Ausgrabungen eine befriedigende Formel finden lassen würde. Wir, denen Bedenken an der Allgemeingiltigkeit der Theorie von der technisch-materiellen Entstehung der Künste von anderer Seite her gekommen sind, haben alle Ursache, uns mit den bezüglichen frühesten aller bisher aufgefundenen menschlichen Kunsterzeugnisse näher vertraut zu machen. Wenn selbst ein so umsichtiger und das Gebiet ornamentaler Erscheinungen allseitig überblickender Forscher wie Sophus Müller sagen konnte: "eine Erklärung der paläolithischen Kunst wird sich wegen des spärlichen Materials nie über unsichere Hypothesen erheben können"6), so haben wir darauf die Erwiderung, dass uns da wenigstens ein Material überhaupt vorliegt, und wäre es ein noch spärlicheres als es in der That ist, wogegen die beliebten technischen Ableitungen der Urmotive vollständig in der Luft hängen, da doch das Material, auf welches sie sich zu stützen vermöchten, nicht entfernt in jene Zeit zurückreicht, in welcher sich die Entstehung der "Urmotive" vollzogen haben muss. Welcher Art sind nun die von den halbkannibalischen Troglodyten Aquitaniens hinterlassenen Kunst- erzeugnisse gewesen? Den besten und bequemsten Überblick über dieselben gewinnt 6) Thierornamentik im Norden 177. 7) Die grösste Beachtung verdient hiebei die wohlüberlegte und doch nicht gegen die Natürlichkeit verstossende Art, in welcher die Extremitäten des Thieres an den Rumpf angelegt erscheinen; das Stück ist übrigens nach Lartet in unvollendetem Zustande geblieben. 2*
Der geometrische Stil. von der technisch-materiellen Entstehung der Künste in Einklang zubringen, das beobachtete hartnäckige Stillschweigen über diesen Gegen- stand verschuldet hätte. Man betrachtete vielmehr diese Dinge offenbar als eine isolirte bizarre Erscheinung, mit welcher man vorläufig nichts anzufangen wusste, und für die sich vielleicht mit der Zeit und mit fortschreitenden Ausgrabungen eine befriedigende Formel finden lassen würde. Wir, denen Bedenken an der Allgemeingiltigkeit der Theorie von der technisch-materiellen Entstehung der Künste von anderer Seite her gekommen sind, haben alle Ursache, uns mit den bezüglichen frühesten aller bisher aufgefundenen menschlichen Kunsterzeugnisse näher vertraut zu machen. Wenn selbst ein so umsichtiger und das Gebiet ornamentaler Erscheinungen allseitig überblickender Forscher wie Sophus Müller sagen konnte: „eine Erklärung der paläolithischen Kunst wird sich wegen des spärlichen Materials nie über unsichere Hypothesen erheben können“6), so haben wir darauf die Erwiderung, dass uns da wenigstens ein Material überhaupt vorliegt, und wäre es ein noch spärlicheres als es in der That ist, wogegen die beliebten technischen Ableitungen der Urmotive vollständig in der Luft hängen, da doch das Material, auf welches sie sich zu stützen vermöchten, nicht entfernt in jene Zeit zurückreicht, in welcher sich die Entstehung der „Urmotive“ vollzogen haben muss. Welcher Art sind nun die von den halbkannibalischen Troglodyten Aquitaniens hinterlassenen Kunst- erzeugnisse gewesen? Den besten und bequemsten Überblick über dieselben gewinnt 6) Thierornamentik im Norden 177. 7) Die grösste Beachtung verdient hiebei die wohlüberlegte und doch nicht gegen die Natürlichkeit verstossende Art, in welcher die Extremitäten des Thieres an den Rumpf angelegt erscheinen; das Stück ist übrigens nach Lartet in unvollendetem Zustande geblieben. 2*
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Der geometrische Stil.
von der technisch-materiellen Entstehung der Künste in Einklang zu
bringen, das beobachtete hartnäckige Stillschweigen über diesen Gegen-
stand verschuldet hätte. Man betrachtete vielmehr diese Dinge offenbar
als eine isolirte bizarre Erscheinung, mit welcher man vorläufig nichts
anzufangen wusste, und für die sich vielleicht mit der Zeit und mit
fortschreitenden Ausgrabungen eine befriedigende Formel finden lassen
würde. Wir, denen Bedenken an der Allgemeingiltigkeit der Theorie
von der technisch-materiellen Entstehung der Künste von anderer Seite
her gekommen sind, haben alle Ursache, uns mit den bezüglichen
frühesten aller bisher aufgefundenen menschlichen Kunsterzeugnisse
näher vertraut zu machen. Wenn selbst ein so umsichtiger und das
Gebiet ornamentaler Erscheinungen allseitig überblickender Forscher
wie Sophus Müller sagen konnte: „eine Erklärung der paläolithischen
Kunst wird sich wegen des spärlichen Materials nie über unsichere
Hypothesen erheben können“ 6), so haben wir darauf die Erwiderung,
dass uns da wenigstens ein Material überhaupt vorliegt, und wäre es
ein noch spärlicheres als es in der That ist, wogegen die beliebten
technischen Ableitungen der Urmotive vollständig in der Luft hängen,
da doch das Material, auf welches sie sich zu stützen vermöchten,
nicht entfernt in jene Zeit zurückreicht, in welcher sich die Entstehung
der „Urmotive“ vollzogen haben muss. Welcher Art sind nun die von
den halbkannibalischen Troglodyten Aquitaniens hinterlassenen Kunst-
erzeugnisse gewesen?
Den besten und bequemsten Überblick über dieselben gewinnt
man dermalen im Musée des antiquités nationales im alten Schlosse von
Saint Germain en Laye, wo sie sich, sei es in Originalien, sei es in Ab-
güssen, fast vollständig zusammengestellt finden. Material ist fast aus-
schliesslich der Thierknochen, und zwar überwiegend Rennthierknochen,
die Technik Schnitzerei oder Gravirung. Da ist es nun überaus lehr-
reich zu beobachten, in welchem Verhältnisse die beiden Techniken,
Schnitzerei und Gravirung, an diesen ältesten aller bisher gefundenen
Kunstdenkmäler der Menschheit zu einander stehen. Sehr häufig be-
gegnet uns das volle Rundwerk, z. B. ein Rennthier als Griff einer
Waffe, etwa eines Dolches (Fig. 1) 7). Das gleiche Motiv kehrt sogar öfter
6) Thierornamentik im Norden 177.
7) Die grösste Beachtung verdient hiebei die wohlüberlegte und doch
nicht gegen die Natürlichkeit verstossende Art, in welcher die Extremitäten
des Thieres an den Rumpf angelegt erscheinen; das Stück ist übrigens nach
Lartet in unvollendetem Zustande geblieben.
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