Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.Der geometrische Stil. bestimmtesten Weise. Wir treffen hier gerade diejenigen Techniken,bei denen der Gegenstand der Darstellung, der künstlerische Inhalt von vornherein gegeben sein muss, bevor derselbe aus dem todten Material herausgearbeitet werden kann. Der Zweck aber, um dessentwillen dem Material die beschriebenen thierischen Formen, sei es in plastischer sei es in flacher Ausführung, gegeben wurden, kann unmöglich ein anderer als ein rein künstlerischer, ornamentaler gewesen sein. Man wollte das Geräthe schmücken. Das Schmuckbedürfniss ist eben eines der elementarsten Bedürfnisse des Menschen, elementarer als das- jenige nach Schutz des Leibes. Es ist dies ein Satz, der hier nicht zum ersten Male vorgebracht wird und zu dem sich auch Semper wiederholt ausdrücklich bekannt hat8). Um so unbegreiflicher muss es erscheinen, dass man trotzdem die Anfänge des Kunstschaffens erst nach den Erfindungen der Techniken, die den Schutz des Leibes zum Zwecke haben, setzen wollte. Sehen wir doch heute noch manche polynesische Stämme jedwede Kleidung verschmähen, aber die Haut von der Stirne bis zu den Zehen tätowiren, d. i. mit linearen Ver- zierungen schmücken9). Leider fehlen uns die Mittel um zu entscheiden, ob die Troglodyten Aquitaniens ihre Haut gleichfalls tätowirt haben; auf den erwähnten Nachbildungen von menschlichen Figuren von ihrer Hand lässt es sich nicht nachweisen. Dass sie aber Schmuckgehänge trugen, ist durch Funde sichergestellt. Denn zu welch' anderem Zwecke als zu demjenigen, etwa auf eine Sehne oder einen Baststreifen aufge- reiht um den Hals getragen zu werden, konnten die durchlöcherten Rinder- und Bärenzähne, zum Theil gleichfalls mit gravirten Thier- 8) An jener obcitirten Stelle Stil I. 213: "Die Kunst des Bekleidens der Nacktheit des Leibes (wenn man die Bemalung der eigenen Haut nicht dazu rechnet) ist vermuthlich eine jüngere Erfindung als die Benutzung deckender Oberflächen zu Lagern und zu räumlichen Abschlüssen." -- II. 466 ... "der Schmuck des eigenen Leibes aus kulturphilosophischen Gründen den Schönheitssinn zuerst zu aktiver Bethätigung auffordert." 9) Einen Widerspruch mit Semper's eben erörterter Annahme begründet
es, wenn er I. 92 sagt: "Die Ornamente auf der Haut dieser Völker sind ge- bildet aus gemalten oder tätowirten Fäden" ... Diesen Widerspruch mildert er dadurch, dass er das Tätowiren möglicherweise nicht für die Eigenthüm- lichkeit eines primitiven, sondern bereits eines sekundären Kulturzustandes erklärt, welche Annahme hinwiederum nur zulässig erscheint unter der bei Semper öfter wiederkehrenden Idee von einem ursprünglichen Vollkommen- heitszustand des Menschengeschlechts. Wie verträgt sich aber diese letztere Idee wiederum mit der Descendenztheorie und der ihr parallel gehenden technisch-materiellen Entstehungstheorie der Künste? Der geometrische Stil. bestimmtesten Weise. Wir treffen hier gerade diejenigen Techniken,bei denen der Gegenstand der Darstellung, der künstlerische Inhalt von vornherein gegeben sein muss, bevor derselbe aus dem todten Material herausgearbeitet werden kann. Der Zweck aber, um dessentwillen dem Material die beschriebenen thierischen Formen, sei es in plastischer sei es in flacher Ausführung, gegeben wurden, kann unmöglich ein anderer als ein rein künstlerischer, ornamentaler gewesen sein. Man wollte das Geräthe schmücken. Das Schmuckbedürfniss ist eben eines der elementarsten Bedürfnisse des Menschen, elementarer als das- jenige nach Schutz des Leibes. Es ist dies ein Satz, der hier nicht zum ersten Male vorgebracht wird und zu dem sich auch Semper wiederholt ausdrücklich bekannt hat8). Um so unbegreiflicher muss es erscheinen, dass man trotzdem die Anfänge des Kunstschaffens erst nach den Erfindungen der Techniken, die den Schutz des Leibes zum Zwecke haben, setzen wollte. Sehen wir doch heute noch manche polynesische Stämme jedwede Kleidung verschmähen, aber die Haut von der Stirne bis zu den Zehen tätowiren, d. i. mit linearen Ver- zierungen schmücken9). Leider fehlen uns die Mittel um zu entscheiden, ob die Troglodyten Aquitaniens ihre Haut gleichfalls tätowirt haben; auf den erwähnten Nachbildungen von menschlichen Figuren von ihrer Hand lässt es sich nicht nachweisen. Dass sie aber Schmuckgehänge trugen, ist durch Funde sichergestellt. Denn zu welch’ anderem Zwecke als zu demjenigen, etwa auf eine Sehne oder einen Baststreifen aufge- reiht um den Hals getragen zu werden, konnten die durchlöcherten Rinder- und Bärenzähne, zum Theil gleichfalls mit gravirten Thier- 8) An jener obcitirten Stelle Stil I. 213: „Die Kunst des Bekleidens der Nacktheit des Leibes (wenn man die Bemalung der eigenen Haut nicht dazu rechnet) ist vermuthlich eine jüngere Erfindung als die Benutzung deckender Oberflächen zu Lagern und zu räumlichen Abschlüssen.“ — II. 466 … „der Schmuck des eigenen Leibes aus kulturphilosophischen Gründen den Schönheitssinn zuerst zu aktiver Bethätigung auffordert.“ 9) Einen Widerspruch mit Semper’s eben erörterter Annahme begründet
es, wenn er I. 92 sagt: „Die Ornamente auf der Haut dieser Völker sind ge- bildet aus gemalten oder tätowirten Fäden“ … Diesen Widerspruch mildert er dadurch, dass er das Tätowiren möglicherweise nicht für die Eigenthüm- lichkeit eines primitiven, sondern bereits eines sekundären Kulturzustandes erklärt, welche Annahme hinwiederum nur zulässig erscheint unter der bei Semper öfter wiederkehrenden Idee von einem ursprünglichen Vollkommen- heitszustand des Menschengeschlechts. Wie verträgt sich aber diese letztere Idee wiederum mit der Descendenztheorie und der ihr parallel gehenden technisch-materiellen Entstehungstheorie der Künste? <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0048" n="22"/><fw place="top" type="header">Der geometrische Stil.</fw><lb/> bestimmtesten Weise. Wir treffen hier gerade diejenigen Techniken,<lb/> bei denen der Gegenstand der Darstellung, der künstlerische Inhalt von<lb/> vornherein gegeben sein muss, bevor derselbe aus dem todten Material<lb/> herausgearbeitet werden kann. Der Zweck aber, um dessentwillen<lb/> dem Material die beschriebenen thierischen Formen, sei es in plastischer<lb/> sei es in flacher Ausführung, gegeben wurden, kann unmöglich ein<lb/> anderer als ein rein künstlerischer, ornamentaler gewesen sein. Man<lb/> wollte das Geräthe <hi rendition="#g">schmücken</hi>. Das Schmuckbedürfniss ist eben<lb/> eines der elementarsten Bedürfnisse des Menschen, elementarer als das-<lb/> jenige nach Schutz des Leibes. Es ist dies ein Satz, der hier nicht<lb/> zum ersten Male vorgebracht wird und zu dem sich auch Semper<lb/> wiederholt ausdrücklich bekannt hat<note place="foot" n="8)">An jener obcitirten Stelle Stil I. 213: „Die Kunst des Bekleidens der<lb/> Nacktheit des Leibes (<hi rendition="#g">wenn man die Bemalung der eigenen Haut nicht<lb/> dazu rechnet</hi>) ist vermuthlich eine jüngere Erfindung als die Benutzung<lb/> deckender Oberflächen zu Lagern und zu räumlichen Abschlüssen.“ — II. 466<lb/> … „der Schmuck des eigenen Leibes aus kulturphilosophischen Gründen den<lb/> Schönheitssinn zuerst zu aktiver Bethätigung auffordert.“</note>. Um so unbegreiflicher muss es<lb/> erscheinen, dass man trotzdem die Anfänge des Kunstschaffens erst<lb/> nach den Erfindungen der Techniken, die den Schutz des Leibes zum<lb/> Zwecke haben, setzen wollte. Sehen wir doch heute noch manche<lb/> polynesische Stämme jedwede Kleidung verschmähen, aber die Haut<lb/> von der Stirne bis zu den Zehen tätowiren, d. i. mit linearen Ver-<lb/> zierungen schmücken<note place="foot" n="9)">Einen Widerspruch mit Semper’s eben erörterter Annahme begründet<lb/> es, wenn er I. 92 sagt: „Die Ornamente auf der Haut dieser Völker sind ge-<lb/> bildet aus gemalten oder tätowirten <hi rendition="#g">Fäden</hi>“ … Diesen Widerspruch mildert<lb/> er dadurch, dass er das Tätowiren möglicherweise nicht für die Eigenthüm-<lb/> lichkeit eines primitiven, sondern bereits eines sekundären Kulturzustandes<lb/> erklärt, welche Annahme hinwiederum nur zulässig erscheint unter der bei<lb/> Semper öfter wiederkehrenden Idee von einem ursprünglichen Vollkommen-<lb/> heitszustand des Menschengeschlechts. Wie verträgt sich aber diese letztere<lb/> Idee wiederum mit der Descendenztheorie und der ihr parallel gehenden<lb/> technisch-materiellen Entstehungstheorie der Künste?</note>. Leider fehlen uns die Mittel um zu entscheiden,<lb/> ob die Troglodyten Aquitaniens ihre Haut gleichfalls tätowirt haben;<lb/> auf den erwähnten Nachbildungen von menschlichen Figuren von ihrer<lb/> Hand lässt es sich nicht nachweisen. Dass sie aber Schmuckgehänge<lb/> trugen, ist durch Funde sichergestellt. Denn zu welch’ anderem Zwecke<lb/> als zu demjenigen, etwa auf eine Sehne oder einen Baststreifen aufge-<lb/> reiht um den Hals getragen zu werden, konnten die durchlöcherten<lb/> Rinder- und Bärenzähne, zum Theil gleichfalls mit gravirten Thier-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [22/0048]
Der geometrische Stil.
bestimmtesten Weise. Wir treffen hier gerade diejenigen Techniken,
bei denen der Gegenstand der Darstellung, der künstlerische Inhalt von
vornherein gegeben sein muss, bevor derselbe aus dem todten Material
herausgearbeitet werden kann. Der Zweck aber, um dessentwillen
dem Material die beschriebenen thierischen Formen, sei es in plastischer
sei es in flacher Ausführung, gegeben wurden, kann unmöglich ein
anderer als ein rein künstlerischer, ornamentaler gewesen sein. Man
wollte das Geräthe schmücken. Das Schmuckbedürfniss ist eben
eines der elementarsten Bedürfnisse des Menschen, elementarer als das-
jenige nach Schutz des Leibes. Es ist dies ein Satz, der hier nicht
zum ersten Male vorgebracht wird und zu dem sich auch Semper
wiederholt ausdrücklich bekannt hat 8). Um so unbegreiflicher muss es
erscheinen, dass man trotzdem die Anfänge des Kunstschaffens erst
nach den Erfindungen der Techniken, die den Schutz des Leibes zum
Zwecke haben, setzen wollte. Sehen wir doch heute noch manche
polynesische Stämme jedwede Kleidung verschmähen, aber die Haut
von der Stirne bis zu den Zehen tätowiren, d. i. mit linearen Ver-
zierungen schmücken 9). Leider fehlen uns die Mittel um zu entscheiden,
ob die Troglodyten Aquitaniens ihre Haut gleichfalls tätowirt haben;
auf den erwähnten Nachbildungen von menschlichen Figuren von ihrer
Hand lässt es sich nicht nachweisen. Dass sie aber Schmuckgehänge
trugen, ist durch Funde sichergestellt. Denn zu welch’ anderem Zwecke
als zu demjenigen, etwa auf eine Sehne oder einen Baststreifen aufge-
reiht um den Hals getragen zu werden, konnten die durchlöcherten
Rinder- und Bärenzähne, zum Theil gleichfalls mit gravirten Thier-
8) An jener obcitirten Stelle Stil I. 213: „Die Kunst des Bekleidens der
Nacktheit des Leibes (wenn man die Bemalung der eigenen Haut nicht
dazu rechnet) ist vermuthlich eine jüngere Erfindung als die Benutzung
deckender Oberflächen zu Lagern und zu räumlichen Abschlüssen.“ — II. 466
… „der Schmuck des eigenen Leibes aus kulturphilosophischen Gründen den
Schönheitssinn zuerst zu aktiver Bethätigung auffordert.“
9) Einen Widerspruch mit Semper’s eben erörterter Annahme begründet
es, wenn er I. 92 sagt: „Die Ornamente auf der Haut dieser Völker sind ge-
bildet aus gemalten oder tätowirten Fäden“ … Diesen Widerspruch mildert
er dadurch, dass er das Tätowiren möglicherweise nicht für die Eigenthüm-
lichkeit eines primitiven, sondern bereits eines sekundären Kulturzustandes
erklärt, welche Annahme hinwiederum nur zulässig erscheint unter der bei
Semper öfter wiederkehrenden Idee von einem ursprünglichen Vollkommen-
heitszustand des Menschengeschlechts. Wie verträgt sich aber diese letztere
Idee wiederum mit der Descendenztheorie und der ihr parallel gehenden
technisch-materiellen Entstehungstheorie der Künste?
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