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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der geometrische Stil.
bildern bedeckt, gedient haben, deren man eine ganze
Anzahl in den Höhlen gefunden hat? Hier begegnen
wir bereits der Reihung als elementarem Kunstgesetz,
und nicht erst bei den regelmässigen Fadenkreuzungen
der Textilkunst, die der Höhlenmensch noch nicht ge-
braucht hat, weil ihm das Bedürfniss darnach augen-
scheinlich noch mangelte. Und das Gleiche gilt von
der Symmetrie. Es ist schon Lartet und Bertrand auf-
gefallen, dass auf einem Geräthe, das ersterer für einen
Marklöffel hält, sich symmetrisch vertheilte Relieforna-
mente finden10). Aber wir begegnen an den Erzeug-
nissen des aquitanischen Höhlenmenschen auch solchen
Verzierungen, die reiner Rhythmus und abstrakte Sym-
metrie sind, d. h. den linearen Verzierungen des geo-
metrischen Stils.

Wir gewahren auf gravirten Rennthierknochen die
Zickzacklinien (Fig. 3)11), das sogen. Fischgrätenmuster,
dieses letztere mit der rhythmisch bereicherten Variante,
dass beiderseits Lagen von je drei Stricheln miteinander
alterniren, netzartig gekreuzte Linien (das scheinbar
textilste aller Muster), gereihte liegende Kreuze u. a. m.
Da haben wir es offenbar nicht mit Abschreibungen aus
der Natur zu thun: es sind rein ornamentale Gebilde,
bestimmt eine gegebene Fläche zu verzieren. Die Be-
stimmung war dictirt von dem gleichen Schmuckbedürf-
niss oder horror vacui, wie die Thierbilder. Zu beachten
bleibt aber hiebei, dass diese geometrischen "Muster"
den Thierbildern an Zahl beträchtlich nachstehen. Wer
diese Bevorzugung des Thierbildes nicht für zufällig
halten will, dem muss sich schon daraus eine Priorität
der Entstehung desselben gegenüber den geometrischen
"Mustern" und die überwiegend plastische Tendenz des

[Abbildung] Fig. 3.

Marklöffel aus
Rennthierknochen,
mit gravirten
Verzierungen.
Laugerie Basse.

10) La Gaule avant les Gaulois 66: ... "porte des ornements en relief
disposes symmetriquement et d'un tres bon goaut".
11) Die bisherigen Publikationen haben den geometrischen Verzierungen
dieser Höhlenfunde begreiflichermaassen weit weniger Beachtung geschenkt,
als den verblüffenden plastischen Gebilden. Unsere Fig. 3 giebt das verhält-
nissmässig beste unter den im Diction. arch. de la Gaule publicirten Stücken
wieder; unter den Funden selbst befinden sich aber weit besser und strenger
gezeichnete Muster, als das vorliegende flüchtige Zickzack.

Der geometrische Stil.
bildern bedeckt, gedient haben, deren man eine ganze
Anzahl in den Höhlen gefunden hat? Hier begegnen
wir bereits der Reihung als elementarem Kunstgesetz,
und nicht erst bei den regelmässigen Fadenkreuzungen
der Textilkunst, die der Höhlenmensch noch nicht ge-
braucht hat, weil ihm das Bedürfniss darnach augen-
scheinlich noch mangelte. Und das Gleiche gilt von
der Symmetrie. Es ist schon Lartet und Bertrand auf-
gefallen, dass auf einem Geräthe, das ersterer für einen
Marklöffel hält, sich symmetrisch vertheilte Relieforna-
mente finden10). Aber wir begegnen an den Erzeug-
nissen des aquitanischen Höhlenmenschen auch solchen
Verzierungen, die reiner Rhythmus und abstrakte Sym-
metrie sind, d. h. den linearen Verzierungen des geo-
metrischen Stils.

Wir gewahren auf gravirten Rennthierknochen die
Zickzacklinien (Fig. 3)11), das sogen. Fischgrätenmuster,
dieses letztere mit der rhythmisch bereicherten Variante,
dass beiderseits Lagen von je drei Stricheln miteinander
alterniren, netzartig gekreuzte Linien (das scheinbar
textilste aller Muster), gereihte liegende Kreuze u. a. m.
Da haben wir es offenbar nicht mit Abschreibungen aus
der Natur zu thun: es sind rein ornamentale Gebilde,
bestimmt eine gegebene Fläche zu verzieren. Die Be-
stimmung war dictirt von dem gleichen Schmuckbedürf-
niss oder horror vacui, wie die Thierbilder. Zu beachten
bleibt aber hiebei, dass diese geometrischen „Muster“
den Thierbildern an Zahl beträchtlich nachstehen. Wer
diese Bevorzugung des Thierbildes nicht für zufällig
halten will, dem muss sich schon daraus eine Priorität
der Entstehung desselben gegenüber den geometrischen
„Mustern“ und die überwiegend plastische Tendenz des

[Abbildung] Fig. 3.

Marklöffel aus
Rennthierknochen,
mit gravirten
Verzierungen.
Laugerie Basse.

10) La Gaule avant les Gaulois 66: … „porte des ornements en relief
disposés symmétriquement et d’un très bon goût“.
11) Die bisherigen Publikationen haben den geometrischen Verzierungen
dieser Höhlenfunde begreiflichermaassen weit weniger Beachtung geschenkt,
als den verblüffenden plastischen Gebilden. Unsere Fig. 3 giebt das verhält-
nissmässig beste unter den im Diction. arch. de la Gaule publicirten Stücken
wieder; unter den Funden selbst befinden sich aber weit besser und strenger
gezeichnete Muster, als das vorliegende flüchtige Zickzack.
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[23/0049] Der geometrische Stil. bildern bedeckt, gedient haben, deren man eine ganze Anzahl in den Höhlen gefunden hat? Hier begegnen wir bereits der Reihung als elementarem Kunstgesetz, und nicht erst bei den regelmässigen Fadenkreuzungen der Textilkunst, die der Höhlenmensch noch nicht ge- braucht hat, weil ihm das Bedürfniss darnach augen- scheinlich noch mangelte. Und das Gleiche gilt von der Symmetrie. Es ist schon Lartet und Bertrand auf- gefallen, dass auf einem Geräthe, das ersterer für einen Marklöffel hält, sich symmetrisch vertheilte Relieforna- mente finden 10). Aber wir begegnen an den Erzeug- nissen des aquitanischen Höhlenmenschen auch solchen Verzierungen, die reiner Rhythmus und abstrakte Sym- metrie sind, d. h. den linearen Verzierungen des geo- metrischen Stils. Wir gewahren auf gravirten Rennthierknochen die Zickzacklinien (Fig. 3) 11), das sogen. Fischgrätenmuster, dieses letztere mit der rhythmisch bereicherten Variante, dass beiderseits Lagen von je drei Stricheln miteinander alterniren, netzartig gekreuzte Linien (das scheinbar textilste aller Muster), gereihte liegende Kreuze u. a. m. Da haben wir es offenbar nicht mit Abschreibungen aus der Natur zu thun: es sind rein ornamentale Gebilde, bestimmt eine gegebene Fläche zu verzieren. Die Be- stimmung war dictirt von dem gleichen Schmuckbedürf- niss oder horror vacui, wie die Thierbilder. Zu beachten bleibt aber hiebei, dass diese geometrischen „Muster“ den Thierbildern an Zahl beträchtlich nachstehen. Wer diese Bevorzugung des Thierbildes nicht für zufällig halten will, dem muss sich schon daraus eine Priorität der Entstehung desselben gegenüber den geometrischen „Mustern“ und die überwiegend plastische Tendenz des [Abbildung Fig. 3. Marklöffel aus Rennthierknochen, mit gravirten Verzierungen. Laugerie Basse.] 10) La Gaule avant les Gaulois 66: … „porte des ornements en relief disposés symmétriquement et d’un très bon goût“. 11) Die bisherigen Publikationen haben den geometrischen Verzierungen dieser Höhlenfunde begreiflichermaassen weit weniger Beachtung geschenkt, als den verblüffenden plastischen Gebilden. Unsere Fig. 3 giebt das verhält- nissmässig beste unter den im Diction. arch. de la Gaule publicirten Stücken wieder; unter den Funden selbst befinden sich aber weit besser und strenger gezeichnete Muster, als das vorliegende flüchtige Zickzack.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/49>, abgerufen am 23.11.2024.