Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Wappenstil.
Das Muster ist fast in allem Wesentlichen symmetrisch angeordnet: die
Figuren in der oberen Hälfte zu beiden Seiten einer trennenden drei-
blättrigen Blume, darunter die zwei Nachen mit je zwei Fischern, so-
wie die Fische und Blattpflanzen im Wasser. Und doch war durch
die Technik, in welcher dieser Einsatz gearbeitet ist, keine Veranlas-
sung gegeben zu solch symmetrischer Gestaltung. Wie schon die an
der Abbildung deutlich wahrnehmbare Ripsbindung verräth, handelte
es sich hiebei nicht um eine Seidenkunstweberei, die ein Interesse
daran gehabt hätte, die gleichen Tritte und Schäfte bald wiederkehren
zu sehen, sondern um eine höchst einfache Handwirkerei, die auf keine
technischen Abkürzungen ausgeht, weil sie dieselben gar nicht brauchen
kann. Die symmetrische Kunstform als solche war also gegeben und
in der Textiltechnik angewendet, nicht umgekehrt. Symmetrisch ver-
zierte Einsätze in Wirkerei sind auch sonst nicht selten unter den ge-
nannten Funden12).

Was zwingt uns denn überhaupt, das Verhältniss umzukehren
und mit Curtius und Anderen den Wappenstil aus der Technik der
Kunstweberei abzuleiten? Das dem Schema zu Grunde liegende Ge-
setz der Symmetrie war doch den Menschen längst bekannt und von
ihnen im Kunstschaffen beobachtet, bevor die Assyrer ihre grosse
orientalische Monarchie aufgerichtet haben. Wie wir im vorigen Capitel
gesehen haben, übten es bereits die Troglodyten; der ganze geometrische
Stil ist nichts anderes als abstrakter Rhythmus und abstrakte Symme-
trie. Sobald die Pflanze in die Ornamentik eingeführt wird, geht das
ganze Bestreben dahin ihre Erscheinung symmetrisch zu gestalten. Als
Resultat dieses Bestrebens werden wir im folgenden Capitel die sym-
metrische Seitenansicht im Lotus, die symmetrische Vollansicht in der
Rosette, eine dritte Art der Projektion, die man etwa als halbe Voll-
ansicht bezeichnen könnte, in der nicht minder symmetrischen Pal-
mette kennen lernen. Wie steht es nun mit der symmetrischen Dar-
stellung der animalischen Wesen? Die Vorderansicht ist zwar bei
Menschen und Thieren symmetrisch gestaltet, aber diese Vorderansicht
ist für's Erste, wenigstens was die Thiere betrifft, die minder charak-
teristische, dann bot ihre Wiedergabe in der Fläche dem primitiven
Künstler wegen der obwaltenden Verkürzungen allzu viele Schwierig-
keiten. Man wählte daher die charakteristischere und annähernd in einer
Fläche verlaufende Seitenansicht, die aber der Symmetrie entbehrte. Um

12) Bucher, Gesch. der techn. Künste II, Fig. 356, 357.

Der Wappenstil.
Das Muster ist fast in allem Wesentlichen symmetrisch angeordnet: die
Figuren in der oberen Hälfte zu beiden Seiten einer trennenden drei-
blättrigen Blume, darunter die zwei Nachen mit je zwei Fischern, so-
wie die Fische und Blattpflanzen im Wasser. Und doch war durch
die Technik, in welcher dieser Einsatz gearbeitet ist, keine Veranlas-
sung gegeben zu solch symmetrischer Gestaltung. Wie schon die an
der Abbildung deutlich wahrnehmbare Ripsbindung verräth, handelte
es sich hiebei nicht um eine Seidenkunstweberei, die ein Interesse
daran gehabt hätte, die gleichen Tritte und Schäfte bald wiederkehren
zu sehen, sondern um eine höchst einfache Handwirkerei, die auf keine
technischen Abkürzungen ausgeht, weil sie dieselben gar nicht brauchen
kann. Die symmetrische Kunstform als solche war also gegeben und
in der Textiltechnik angewendet, nicht umgekehrt. Symmetrisch ver-
zierte Einsätze in Wirkerei sind auch sonst nicht selten unter den ge-
nannten Funden12).

Was zwingt uns denn überhaupt, das Verhältniss umzukehren
und mit Curtius und Anderen den Wappenstil aus der Technik der
Kunstweberei abzuleiten? Das dem Schema zu Grunde liegende Ge-
setz der Symmetrie war doch den Menschen längst bekannt und von
ihnen im Kunstschaffen beobachtet, bevor die Assyrer ihre grosse
orientalische Monarchie aufgerichtet haben. Wie wir im vorigen Capitel
gesehen haben, übten es bereits die Troglodyten; der ganze geometrische
Stil ist nichts anderes als abstrakter Rhythmus und abstrakte Symme-
trie. Sobald die Pflanze in die Ornamentik eingeführt wird, geht das
ganze Bestreben dahin ihre Erscheinung symmetrisch zu gestalten. Als
Resultat dieses Bestrebens werden wir im folgenden Capitel die sym-
metrische Seitenansicht im Lotus, die symmetrische Vollansicht in der
Rosette, eine dritte Art der Projektion, die man etwa als halbe Voll-
ansicht bezeichnen könnte, in der nicht minder symmetrischen Pal-
mette kennen lernen. Wie steht es nun mit der symmetrischen Dar-
stellung der animalischen Wesen? Die Vorderansicht ist zwar bei
Menschen und Thieren symmetrisch gestaltet, aber diese Vorderansicht
ist für’s Erste, wenigstens was die Thiere betrifft, die minder charak-
teristische, dann bot ihre Wiedergabe in der Fläche dem primitiven
Künstler wegen der obwaltenden Verkürzungen allzu viele Schwierig-
keiten. Man wählte daher die charakteristischere und annähernd in einer
Fläche verlaufende Seitenansicht, die aber der Symmetrie entbehrte. Um

12) Bucher, Gesch. der techn. Künste II, Fig. 356, 357.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0065" n="39"/><fw place="top" type="header">Der Wappenstil.</fw><lb/>
Das Muster ist fast in allem Wesentlichen symmetrisch angeordnet: die<lb/>
Figuren in der oberen Hälfte zu beiden Seiten einer trennenden drei-<lb/>
blättrigen Blume, darunter die zwei Nachen mit je zwei Fischern, so-<lb/>
wie die Fische und Blattpflanzen im Wasser. Und doch war durch<lb/>
die Technik, in welcher dieser Einsatz gearbeitet ist, keine Veranlas-<lb/>
sung gegeben zu solch symmetrischer Gestaltung. Wie schon die an<lb/>
der Abbildung deutlich wahrnehmbare Ripsbindung verräth, handelte<lb/>
es sich hiebei nicht um eine Seidenkunstweberei, die ein Interesse<lb/>
daran gehabt hätte, die gleichen Tritte und Schäfte bald wiederkehren<lb/>
zu sehen, sondern um eine höchst einfache Handwirkerei, die auf keine<lb/>
technischen Abkürzungen ausgeht, weil sie dieselben gar nicht brauchen<lb/>
kann. Die symmetrische Kunstform als solche war also gegeben und<lb/>
in der Textiltechnik angewendet, nicht umgekehrt. Symmetrisch ver-<lb/>
zierte Einsätze in Wirkerei sind auch sonst nicht selten unter den ge-<lb/>
nannten Funden<note place="foot" n="12)">Bucher, Gesch. der techn. Künste II, Fig. 356, 357.</note>.</p><lb/>
        <p>Was zwingt uns denn überhaupt, das Verhältniss umzukehren<lb/>
und mit Curtius und Anderen den Wappenstil aus der Technik der<lb/>
Kunstweberei abzuleiten? Das dem Schema zu Grunde liegende Ge-<lb/>
setz der Symmetrie war doch den Menschen längst bekannt und von<lb/>
ihnen im Kunstschaffen beobachtet, bevor die Assyrer ihre grosse<lb/>
orientalische Monarchie aufgerichtet haben. Wie wir im vorigen Capitel<lb/>
gesehen haben, übten es bereits die Troglodyten; der ganze geometrische<lb/>
Stil ist nichts anderes als abstrakter Rhythmus und abstrakte Symme-<lb/>
trie. Sobald die Pflanze in die Ornamentik eingeführt wird, geht das<lb/>
ganze Bestreben dahin ihre Erscheinung symmetrisch zu gestalten. Als<lb/>
Resultat dieses Bestrebens werden wir im folgenden Capitel die sym-<lb/>
metrische Seitenansicht im Lotus, die symmetrische Vollansicht in der<lb/>
Rosette, eine dritte Art der Projektion, die man etwa als halbe Voll-<lb/>
ansicht bezeichnen könnte, in der nicht minder symmetrischen Pal-<lb/>
mette kennen lernen. Wie steht es nun mit der symmetrischen Dar-<lb/>
stellung der animalischen Wesen? Die Vorderansicht ist zwar bei<lb/>
Menschen und Thieren symmetrisch gestaltet, aber diese Vorderansicht<lb/>
ist für&#x2019;s Erste, wenigstens was die Thiere betrifft, die minder charak-<lb/>
teristische, dann bot ihre Wiedergabe in der Fläche dem primitiven<lb/>
Künstler wegen der obwaltenden Verkürzungen allzu viele Schwierig-<lb/>
keiten. Man wählte daher die charakteristischere und annähernd in einer<lb/>
Fläche verlaufende Seitenansicht, die aber der Symmetrie entbehrte. Um<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0065] Der Wappenstil. Das Muster ist fast in allem Wesentlichen symmetrisch angeordnet: die Figuren in der oberen Hälfte zu beiden Seiten einer trennenden drei- blättrigen Blume, darunter die zwei Nachen mit je zwei Fischern, so- wie die Fische und Blattpflanzen im Wasser. Und doch war durch die Technik, in welcher dieser Einsatz gearbeitet ist, keine Veranlas- sung gegeben zu solch symmetrischer Gestaltung. Wie schon die an der Abbildung deutlich wahrnehmbare Ripsbindung verräth, handelte es sich hiebei nicht um eine Seidenkunstweberei, die ein Interesse daran gehabt hätte, die gleichen Tritte und Schäfte bald wiederkehren zu sehen, sondern um eine höchst einfache Handwirkerei, die auf keine technischen Abkürzungen ausgeht, weil sie dieselben gar nicht brauchen kann. Die symmetrische Kunstform als solche war also gegeben und in der Textiltechnik angewendet, nicht umgekehrt. Symmetrisch ver- zierte Einsätze in Wirkerei sind auch sonst nicht selten unter den ge- nannten Funden 12). Was zwingt uns denn überhaupt, das Verhältniss umzukehren und mit Curtius und Anderen den Wappenstil aus der Technik der Kunstweberei abzuleiten? Das dem Schema zu Grunde liegende Ge- setz der Symmetrie war doch den Menschen längst bekannt und von ihnen im Kunstschaffen beobachtet, bevor die Assyrer ihre grosse orientalische Monarchie aufgerichtet haben. Wie wir im vorigen Capitel gesehen haben, übten es bereits die Troglodyten; der ganze geometrische Stil ist nichts anderes als abstrakter Rhythmus und abstrakte Symme- trie. Sobald die Pflanze in die Ornamentik eingeführt wird, geht das ganze Bestreben dahin ihre Erscheinung symmetrisch zu gestalten. Als Resultat dieses Bestrebens werden wir im folgenden Capitel die sym- metrische Seitenansicht im Lotus, die symmetrische Vollansicht in der Rosette, eine dritte Art der Projektion, die man etwa als halbe Voll- ansicht bezeichnen könnte, in der nicht minder symmetrischen Pal- mette kennen lernen. Wie steht es nun mit der symmetrischen Dar- stellung der animalischen Wesen? Die Vorderansicht ist zwar bei Menschen und Thieren symmetrisch gestaltet, aber diese Vorderansicht ist für’s Erste, wenigstens was die Thiere betrifft, die minder charak- teristische, dann bot ihre Wiedergabe in der Fläche dem primitiven Künstler wegen der obwaltenden Verkürzungen allzu viele Schwierig- keiten. Man wählte daher die charakteristischere und annähernd in einer Fläche verlaufende Seitenansicht, die aber der Symmetrie entbehrte. Um 12) Bucher, Gesch. der techn. Künste II, Fig. 356, 357.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/65
Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/65>, abgerufen am 23.11.2024.